Ja, wir können in der Tat von Goethe lernen! Freilich anders, als die Islamkritikerin Necla Kelek es in ihrer Antwort (F.A.Z. vom 11. Januar) auf die Replik meines Vaters, Hadayatullah Hübsch zu Thilo Sarrazins Bilanz andeutet.

Ja, wir können in der Tat von Goethe lernen! Freilich anders, als die Islamkritikerin Necla Kelek es in ihrer Antwort (F.A.Z. vom 11. Januar) auf die Replik meines Vaters, Hadayatullah Hübsch zu Thilo Sarrazins Bilanz andeutet. (Hier ein Überblick)

Sicherlich lässt Goethe sich nicht für den Islam vereinnahmen, die beeindruckende Spannbreite seines Denkens lässt sich ohnehin nur schwerlich einer bestimmten Weltanschauung zuordnen. Und gerade das zeichnet Goethe aus: Er hat die Weitsicht eines brückenschaffenden Freigeistes und sieht sich in der „Rolle eines Handelsmannes, der seine Waren gefällig auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu machen sucht“, wie Goethe in seinen „Noten und Abhandlungen“ zum west-östlichen Divan erklärt.

Goethe hatte kaum persönliche Erfahrungen mit Muslimen und doch versuchte er sich inhaltlich mit dem Islam zu beschäftigen, jenseits der einflussreichen, islamfeindlichen Paradigmen, die sich schon seit den Kreuzzügen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hatten und auch nach der Aufklärung bestehen blieben. Dies ist umso beachtenswerter, als erst kürzlich das Meinungsforschungsinstitut Emnid in einer repräsentativen Umfrage zum Islam feststellte, dass die Deutschen viel intoleranter gegenüber dem Islam sind, als ihre west-europäischen Nachbarn und als Hauptursache die geringe Kontakthäufigkeit mit Muslimen ansieht.

Der Islam als Prototyp für das Fremde taugt damals wie heute nur, wenn er fremd bleibt und somit zugänglich für alle möglichen Formen der Projektionen und Diffamierungen. Setzt man sich aber mit den Quellen des Islam auseinander, kommt man womöglich zu einem differenzierteren Bild als Kelek suggeriert.

Der Koranvers „In Glaubensdingen darf es keinen Zwang geben“ (Sure 2, 257) beziehe sich nur darauf, dass der Gläubige seinen religiösen Pflichten freiwillig nachkommen soll, so Kelek. Doch wie kommt sie zu ihrer so  massiv einschränkenden Interpretation dieses Verses mit der sie sehr allein stehen dürften?

Dass Kelek sich bei ihrer Deutung des Islam ausgerechnet an jene buchstabengläubige Lesart orientiert, die schon Goethe im Divan kritisierte, ist besonders perfide und diskreditiert sie als Islamkennerin. Als solche müsste sie wissen, dass eine große Zahl islamischer Gelehrte diesen Vers als Beleg für die Verankerung der Glaubensfreiheit im Islam anführt. Wenn Kelek aber im Zweifel die rigide und regressive Auslegung wählt, um den Islam dem Wesen nach als ursächlich problematisch erscheinen zu lassen, dann trägt sie genau dazu bei. Doch man kann ihn anders sehen, wenn man von einer eindimensionalen Betrachtung Abstand nimmt und den Koran ganzheitlich rezipiert.

Heißt es im Koran nicht auch:

Und hätte dein Herr Seinen Willen erzwungen, wahrlich, alle, die auf der Erde sind, würden geglaubt haben insgesamt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, dass sie Gläubige werden?“ (Koran, Sure 10, 100)

Es kommt demnach einer ungeheuerlich anmaßenden Hybris gleich, wenn ein Mensch meint, einem anderen Menschen einen Glauben aufzwingen zu dürfen.

Und nur einen Vers später lautet es,  Gott sende seinen „ Zorn über jene, die ihre Vernunft nicht gebrauchen“. Es ist dieses rationale Element der islamischen Religion, das sich in nahezu einem Achtel des Buches niederschlägt, in dem der Mensch in unzähligen Koranversen dazu aufgefordert wird, seine Vernunft zu gebrauchen, nachzudenken und die Natur zu studieren, und das Goethe wie Lessing fasziniert hat, obgleich es von vielen Muslimen heutzutage nicht mehr beachtet wird.

Wenn Kelek jedoch meint, Goethe habe von der Himmelsreise des Propheten geschwärmt, dann verkennt sie, dass Goethe sich nicht für einen einfältigen Wunderglauben begeistern ließ.  Im Gegenteil fühlte er sich wie auch der große Denker der Aufklärung, Lessing, sich gerade deswegen vom Islam angesprochen, weil er ihm als besonders rationale, vernünftige Religion erschien – auch wenn er abergläubische Tendenzen aus dem traditionellem Volksislam, wie die buchstäbliche Interpretation der Himmelsreise, kannte.  Der west-östliche Divan ist auch insofern west-östlich, als dass Goethe sowohl muslimische, als auch christliche Eiferer und ihre „spitzfindigen Subtilitäten“ sowie die sich darin manifestierende Vernunftfeindlichkeit kritisiert.

Lessing ging sogar so weit, den Islam zur Kritik an der orthodoxen Dogmatik des Christentums seiner Zeit zu instrumentalisieren, wobei er vor allem die Toleranz im Islam betonte. Im europäischen Islambild heute gilt die Intoleranz geradezu als islaminhärent. Goethe wie Lessing haben jedoch das Gute im Islam gesehen und wussten vermutlich, dass der Koran auch  Juden, Christen und Andersgläubige das Paradies verspricht, wenn sie Gutes tun (Vgl. Sure 5, 30 oder 2, 63).

Und doch parodiert Goethe ironisch die ihm damals bekannten Paradiesvorstellungen der Muslime als realitätsfern und entlarvt sich damit als Kind seiner Zeit. Das Islambild war geprägt von der Vorstellung einer sensualistisch-üppigen Welt der odaliskenreichen Harems. Es diente als Projektionsfläche für die eigenen nicht erfüllbaren erotischen Sehnsüchte und Wünsche. Heute ist das Gegenteil der Fall, der Islam gilt als lust- und sinnenfeindlich –  was deutlich werden lässt, dass es nicht nur das Verhalten der Muslime selbst ist, sondern auch die Veränderung des Selbstbildes westlicher Gesellschaften, die das Fremdbild formt.

Auch im Islam gibt es eine Entmythologisierung und der Koran spricht über das Paradies in „Gleichnissen“ (Vlg. z.B. Sure 17, 90), es handelt sich dabei um einen immateriellen Ort, der anhand von Metaphern veranschaulicht wird. Vorurteile, nach denen die Frau im Islam keine Seele habe, die später durch Karl May weit verbreitet wurden, sind ebenso haltlos, wie Keleks Behauptung, das Paradies im Islam sei nur für Männer. Sogar bei einer buchstabengetreuen wörtlichen Betrachtung gibt es genügend Verse, die dies wiederlegen: „Allah hat den gläubigen Männern und den gläubigen Frauen Gärten verheißen, die von Strömen durchflossen werden, immerdar darin zu weilen, und herrliche Wohnstätten in den Gärten der Ewigkeit. Allahs Wohlgefallen aber ist das Größte. Das ist die höchste Glückseligkeit.“ (Sure 9, 72) Und es ist ebenso von  Gefährten und Jünglingen die Rede, wie von Gefährtinnen und Jungfrauen. Wer anderes postuliert, hat entweder den Koran nie gelesen oder bedient sich eines Buchstabenpositivismus, der dem Geist der Aussagen nicht gerecht wird.

Ja, Goethe hat vom Islam viel mehr verstanden, als so mancher islamische Gelehrte der heutigen Zeit und mehr als so manche Islamkritikerin. Seine lebenslange Beschäftigung mit dem Islam (als 23jähriger schrieb er sein Preislied auf den Propheten Muhammad, als 70-jähriger verfasste er seinen Divan) hat damit zu tun, dass er den Kern der islamischen Spiritualität verstanden hatte. Wenn er dichtete „„Närrisch, dass jeder in seinem Falle/ Seine besondere Meinung preist!/Wenn Islam Gott ergeben heißt,/ Im Islam leben und sterben wir alle“, dann meinte er damit allerdings eben nicht einen institutionalisierten Islam, sondern die mystische Bedeutung des Begriffes „Islam“ als Frieden finden durch Ergebung in Gottes Willen.

Eines seiner berühmtesten Gedichte aus dem Divan und gleichzeitig eines der Gedichte mit dem tiefsten Gehalt überhaupt in der deutschsprachigen Literatur, die „Selige Sehnsucht“ ist durchtränkt vom sufistisch-mystischen Gedanken der unio-mystika, der Auflösung der Seele in dem Licht des Schöpfers. Das „Stirb und Werde“ erinnert nicht zufällig an die Sufi-Weisheit „Sterbt bevor ihr sterbet“ bzw. an den koranischen Vers „Tötet euch selbst“ (4:67). Jedem vernunftbegabten Menschen ist verständlich, dass dieser Vers genauso wenig wie die Beschreibungen des Paradieses buchstabengetreu verstanden werden kann, auch wenn einige verblendete Selbstmordattentäter dies so sehen mögen. Es geht hier vielmehr um den großen „Jihad“, dem Kampf gegen das Ego, dem Ich-Tod und darum, uneigennützig Gutes zu tun.

Goethe, Lessing und auch Heine hegten den innigsten Wunsch, dass der Mensch das Gute tun möge, weil es das Gute ist. Lessing beschreibt die „Uneigennützigkeit“ und die völlige „Reinheit des Herzens“ als Ziel, das dadurch erlangt wird, dass der Mensch die „innere Belohnung der Tugend“ als Motivation für sein Handeln übernimmt.

Auch Goethe schildert in seinem Divan im „Buch der Betrachtungen“ die „Wonne des Gebens“ und fordert „Gutes tu rein aus des Guten Liebe“. Und sogar der eher hedonistisch orientierte Heine fordert in einem Brief: „Alle unsere Handlungen sollen aus dem Quell einer uneigennützigen Liebe hervorsprudeln“ und berichtet anschließend von der berühmten islamischen Mystikerin Rabia al Adawiya aus Basra, die zu Allah betete: „O Allah, wenn ich Dich aus Furcht vor der Hölle verehren sollte, dann verbrenn mich in der Hölle, und wenn ich Dich in Hoffnung auf das Paradies verehren sollte, dann schließe mich aus dem Paradies aus; aber wenn ich Dich um Deiner eigenen Selbst Willen verehre, dann verbirg vor mir nicht Deine immerwährende Schönheit“.

Jenseits von Körperlichkeit oder der Geschlechtszugehörigkeit geht es dem Islam um diesen Weg nach Innen, ein Weg der Selbstkritik und der Arbeit an der Seele. Und doch ist der Islam nicht realitätsfern. „Trink, was indem Glas ist“, sagte der große islamische Mystiker Rumi. Es geht um das Innere, doch um zur Perle zu werden, bedarf es der Muschel. Gebote, dem Geist nach befolgt, sind hilfreich. Wenn die frühen Muslime nach 13 Jahren Verfolgung und Auswanderung zu den Waffen griffen, um sich zu verteidigen, ist dies vernünftig. Und wenn anschließend auf Rache verzichtet wird, und Gnade vor Recht gilt, dann zeugt das von menschlicher Größe.

Auch wenn Kritiker die islamische Frühgeschichte anders interpretieren sollten: Wichtig ist, welche Werte Muslime aus den islamischen Quellen für sich ableiten. In einer Überlieferung  des Propheten Muhammadsasheißt es, dass derjenige einen Menschen zum Sünder macht, der ihn zum Sünder erklärt. Das Gute im Islam zu sehen, heißt, ihn gut zu machen. Das Gute im Islam zu sehen, heißt auch, dazu beizutragen, dass er zum Guten wirkt.