Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung die Menschenrechte in der Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) haben und wie sich die AMJ hinsichtlich der Frage der Vereinbarkeit zwischen Islam und Menschenrechte positioniert.

Die AMJ versteht sich als eine Reformbewegung innerhalb des Islams und argumentiert auf Grundlage der Quellen des Islams: Der Koran als Offenbarung Gottes sowie die Praxis und Überlieferung (Sunna, Hadith) des Propheten Muhammad (ca. 570-632).

Zu den prominentesten Vertretern dieser jungen und dynamisch wachsenden Religionsgemeinschaft, die 1889 in Indien von Mirza Ghulam Ahmad (1835-1908) gegründet wurde, gehört Sir Muhammad Zafrullah Khan (1893-1985), der der erste Außenminister Pakistans sowie Präsident der UN-Generalversammlung und dann Präsident des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag war. Er verfasste ein Standardwerk mit dem Titel „Islam and Human Rights“[1] , in dem er die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 im Detail Artikel für Artikel mit den wichtigsten Quellen des Islams verglich. Seine vergleichende Studie soll keine kulturalistische Vereinnahmung der Menschenrechtsidee wie sie Bielefeld problematisiert[2] darstellen, sondern hat das Ziel die Kompatibilität der Idee der Menschenrechte mit dem Islam herauszuarbeiten.  Insbesondere hinsichtlich der Frage der Meinungs- und Religionsfreiheit, deren Bedeutung sich am Beispiel des Umgangs mit Blasphemie und Apostasie zeigt, gibt es eine deutliche Positionierung der AMJ mit einer ausführlichen theologischen Argumentation, die die Vereinbarung von Menschenrechten und Islam möglich macht. Die  Kairoer Erklärung der Menschenrechte (KEM) von 1990 wird diesbezüglich scharf kritisiert.[3] Hinsichtlich der Frauenrechte und der Religionsfreiheit nehme die KEM eine eklatante Einschränkung im Vergleich zu den UN-Menschenrechten vor, moniert Ahmad.

Der Beitrag wird im Folgenden einen kurzen Überblick über die Interpretation der AMJ bezüglich derjenigen UN-Menschenrechtsartikel geben, von denen es gemäß des klassischen islamischen Rechtsverständnisses heißt, sie kollidierten mit dem modernen Menschenrechtsbegriff. Dabei handelt es sich um die Einschränkung der Religions- und Meinungsfreiheit, Körperstrafen, die Sklaverei und die Gleichberechtigung von Mann und Frau.[4] Zuvor werden jedoch einführend grundlegende Parallelen zwischen den UN-Menschenrechten und der koranischen Lehre dargestellt, wie sie Khan in seiner Vergleichsstudie vornimmt.

DIE WÜRDE DES MENSCHEN

Khan würdigt die UN-Menschenrechtserklärung als „bahnbrechende Formulierung der Menschenrechte“ und stellt fest, dass der Islam hinsichtlich der Ziele der Menschenrechtsartikel völlig übereinstimmt. Indem er jeden einzelnen Artikel mit der Lehre des Islam vergleicht, gelingt es ihm aufzuzeigen, dass es bezüglich der übergeordneten Ziele eines jeden UN-Menschenrechtsartikel deutliche Parallelen zur islamischen Lehre gibt.

Bezugnehmend auf Artikel 1 und 2 der UN-Menschenrechtserklärung führt Khan Koranverse an, die die Gleichheit der Menschen betonen und erklärt: „Der Islam räumt kein Vorrecht hinsichtlich der Geburt, der Nationalität oder irgendeines anderen Faktors ein“[5], entscheidend sei die Rechtschaffenheit des Menschen. Alle Menschen seien „hinsichtlich ihres spirituellen Ursprungs  verwandt“[6], und seien ausnahmslos unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, ihres Geschlechts oder Glaubens, „die Geschöpfe des einen, lebendigen, liebenden, allmächtigen, barmherzigen und mitleidsvollen Schöpfers (…), für den das Wohl eines jeden einen gleich hohen Stellenwert hat“.[7] Khan zitiert dazu u.a. folgende Koranverse: „O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen erschaffen hat…“(4:2)[8] „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“ (49:14).

Khan betont ferner, dass Gott dem Menschen eine besondere Würde verliehen habe, indem er ihn im Koran als „Statthalter auf Erden“ (35:40) beschreibt und erklärt: „Wahrlich, Wir haben den Menschen in schönstem Ebenmaß erschaffen“ (95:5).[9]  Während Schirrmacher beklagt, dass die Würde des Menschen in der KEM beispielsweise unweigerlich mit dem islamischen Glauben verknüpft wird,[10] wird hier der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte, der an keinerlei Bedingung gekoppelt ist, hervorgehoben.  Das derzeitige Oberhaupt der AMJ, Mirza Masroor Ahmad (geb. 1950), der als fünfter Nachfolger des Begründers als Khalif bezeichnet wird, erklärt folglich: „Islam taught that all people were born equal and were deserving of equal human rights.“[11]

Khan erwähnt ferner, dass Gott den Menschen als „Statthalter auf Erden“ mit Verstand ausgestattet habe und plädiert bei der Interpretation der Koranverse für eine vernunftgemäße Auslegung, die die zeitlichen und sozialen Rahmenbedingungen angemessen berücksichtigt und die Verse ihrem sinngemäßem Geist nach umsetzt. Besonders in Bezug auf den Artikel 4 und 5 der UN-Menschenrechtserklärung, in denen es um ein Verbot der Sklaverei und unmenschlicher Strafen geht, kommt dieser Ansatz zum Tragen. Der erste muslimische Nobelpreisträger, Abdus Salam (1926-1996), ebenfalls ein Ahmadi-Muslim, der von Al-Khalili als „größte[r] Physiker der islamischen Welt seit 1000 Jahren“[12] bezeichnet wurde, erklärt dazu: „Siebenhunderundfünfzig Verse des Korans – (nahezu ein Achtel des Buches) – ermahnen die Gläubigen, die Natur zu studieren, nachzudenken, den besten Gebrauch von dem Verstand in ihrer Suche nach dem Letztendlichen zu machen und den Erwerb von Wissen und wissenschaftlicher Wahrnehmung zu einem Teil des Gemeindelebens werden zu lassen“[13], und betont dabei, dass der Wissenserwerb gemäß einer Überlieferung des Propheten für Mann und Frau obligatorisch sei. Es wird vor diesem Hintergrund dafür plädiert, den Koran jenseits einer absolut wortwörtlichen Auslegung vernunftgeleitet zu interpretieren, da Gott selbst im Koran davor warnt, dass er seinen „Zorn über jene, die ihre Vernunft nicht gebrauchen mögen“ senden wird (10:101).

SKLAVEREI UND KÖRPERSTRAFEN

Khan argumentiert anhand von Überlieferungen des Propheten, dass der Islam die völlige Abschaffung der Sklaverei anstrebte, indem sukzessive Vorschriften eingeführt wurden, die eine ablehnende Haltung gegenüber der Sklaverei forcierten. Auch wenn der Koran also Vorschriften bezüglich der Sklaverei enthält, schaffte der Islam die Bedingungen für ein allmähliches Verbot der Sklaverei. Dass der Prophet selbst Sklaven frei ließ und dies immer wieder empfahl sowie gleichzeitig forderte, Sklaven respektvoll zu behandeln und sie so zu ernähren und zu kleiden, wie sich selbst, zeige, dass die Umstände dafür geschaffen wurden, die endgültige Abschaffung der Sklaverei zu erzielen.[14] Khan geht dabei auch auf die Ursachen der Sklaverei ein und thematisiert in dem Zusammenhang die Gefangennahme im Krieg, der im Islam nur im Falle von Verteidigungskämpfen erlaubt sei und für die Vorschriften eingeführt worden seien, die eine humane Behandlung der Gefangenen sicherstellten mit dem Ziel, die Sklaverei abzuschaffen. Es wird somit Wert gelegt auf den historischen Kontext zur Zeit der Offenbarung und dem übergeordneten Geist der koranischen Botschaft, den es zu verstehen gelte, wenn man die Verse auf unsere heutige Zeit übertragen möchte. Deutlich wird diese Interpretationsweise auch bezüglich der Koranverse, die sich mit Gewalt beschäftigen. Die Aufforderung „tötet die Ungläubigen“ (9:5) sowie die sogenannten Schwertverse werden vor diesem Hintergrund nur als zeitlich begrenzte, konkrete Anweisung während eines Verteidigungskrieges verstanden und keinesfalls als eine allgemeingültige Aussage, wobei zudem durch den unmittelbaren textuellen Kotext deutliche Einschränkungen und Rahmenbedingungen für einen Verteidigungskrieg auferlegt werden. Der Jihad gilt ferner in erster Linie als Kampf gegen das Ego und die Triebseele (nafse-ammara), der bewaffnete Kampf als nicht mehr zeitgemäß. [15]

Ebensolche Einschränkungen formuliert Mirza Tahir Ahmad (1923-2003), der vierte Khalif der AMJ bezüglich der Implementierung islamischer Strafgesetze. Über diese dürfe laut Ahmad erst dann diskutiert werden, wenn komplexe Rahmenbedingungen eingehalten worden sind: „Raise the standard of society, give them their due rights – provide them with the means of livelihood, provide them with the minimum guarantees. Then, and only then, does the state have the right to speak of punishment – not before.”[16] Ahmad spricht sich weiterhin deutlich für ein säkulares System aus, um nicht-Muslime in einem islamischen Staat davor zu schützen, sich islamischen Gesetzen unterwerfen zu müssen. Er konstatiert, dass der Islam für eine säkulare Form der Regierung plädiere, da der eigentliche Kern des Säkularismus in der Wahrung absoluter Gerechtigkeit liege, bei der nicht zwischen Glauben, Religion, Rasse oder ethnischer Zugehörigkeit unterschieden wird und dieses Prinzip der koranischen Lehre entspricht.[17]Als Beleg führt er die Praxis des Propheten Muhammad an, der in Medina auch von nicht-Muslimen, darunter vor allem Juden, zum politischen Führer ernannt wurde und gemäß der Charta von Medina bei Streitfällen stets fragte, ob die Betroffenen eine Lösung der Auseinandersetzung gemäß des jüdischen oder des islamischen Rechts oder durch einen Schiedsspruch wollten. Eine islamische Regierung ist demgemäß laut Ahmad eine säkulare Regierung.[18]

Khan führt ferner an, dass die im Koran erwähnten Körperstrafen, darunter beispielsweise „das Abschneiden der Hände“ (5:39) zum einen nur in äußerst extremen Fällen Anwendung finden dürfen, da auch der zweite Khalif nach dem Propheten, Umar, immer auf der Suche nach mildernden Umständen die Strafen herabzusetzten suchte, wie man aus Überlieferungen weiß. Zum anderen sieht er bezüglich der Interpretation jenseits einer buchstäblichen Auslegung die Möglichkeit, den arabischen Begriff Aidee (Hände) hinsichtlich seiner übertragenen Bedeutung zu verstehen.  Wenn die Propheten Abraham, Isaak und Jakob im Koran als Männer bezeichnet werden, die „Hände und Augen besaßen“ (38:46), dann sei damit offensichtlich gemeint, dass sie „Kraft und Einsicht“ besaßen. In diesem Sinne könne mit einem „Abschneiden der Hände“ auch gemeint sein, jemandem die Handlungsfähigkeit zu nehmen. Da qat´a (arabisch: abschneiden) zudem die Bedeutung von „etwas einschränken“ in sich trägt, lasse sich aus dem im Koran erwähnten Vers für die Strafe auf Diebstahl auch eine Haftstrafe ableiten. Khan führt zudem Belege aus dem Koran an, die zeigen, dass selbst bei einem wörtlichen Verständnis von qat´a kein vollständiges Abschneiden der Hände gemeint sein könne, etwa wenn es über die ägyptischen Frauen heißt, dass sie sich beim Anblick der Schönheit des Propheten Josef die Hände schnitten (12:32).[19] Bezüglich der Prügelstrafe für Ehebruch erwähnt Khan keinen ähnlichen Interpretationsspielraum; er bemerkt sogar, dass es bis heute umstritten sei, „ob eine Gefängnisstrafe in allen Fällen und Situationen besser ist als eine Prügelstrafe“, die für ihn im Verhältnis nicht weniger unmenschlich oder erniedrigend ist, gemessen an einer extremen Straftat, wobei die Hürden für eine Körperstrafe in der Praxis ausgesprochen hoch seien. Ahmad erklärt dazu, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass die Strafe umgesetzt wird, da eine der Bedingungen etwa ist, den Ehebruch öffentlich zu praktizieren, denn im Koran werden vier unabhängige und glaubwürdige Zeugen verlangt (24:5). Steinigung wird von der AMJ in jedem Fall als vor-islamische, alttestamentarische Strafe abgelehnt, die der Lehre des Korans widerspricht. Überlieferungen (Hadith), die koranischen Aussagen entgegenstehen, werden als unauthentisch abgelehnt.

APOSTASIE UND BLASPHEMIE

Ein häufig angeführtes Argument für die Unvereinbarkeit der UN-Menschenrechtserklärung mit dem Islam ist die verbreitete Vorstellung, der Islam schränke die Religionsfreiheit ein, da er die Todesstrafe für Apostasie vorschreibe und davon ausgehend die Meinungsfreiheit begrenze, da blasphemische Äußerungen häufig gleichgesetzt werden mit der Apostasie und zudem nicht-Muslimen das offene Missionieren aus diesem Grunde verboten werde. Die AMJ hat sich diesbezüglich bereits früh eindeutig positioniert. Mirza Tahir Ahmad verfasste dazu eine ausführliche Argumentationsstruktur basierend auf einer Analyse des Koran und der Überlieferungen des Propheten, die ihn zum Ergebnis führt, dass Apostasie und Blasphemie im Koran mit keinerlei weltlichen Strafen sanktioniert werden.[20] Rafi Ahmad kritisiert daher auch vehement die KEM, in der es im zehnten Kapitel heißt: „Der Islam ist die Religion der reinen Wesensart. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren.“ Für Rafi Ahmad ist diese Aussage als einzige Stellungnahme zur Religionsfreiheit in der Konsequenz eine deutliche Einschränkung des Artikels 18 der UN-Menschenrechtserklärung, der den Anspruch auf „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ sowie die Freiheit seine Religion zu wechseln vorsieht.[21]

Die AMJ plädiert dem entgegengesetzt auf eine theologische Argumentation aufbauend für die uneingeschränkte und kompromisslose Gewissens- und Religionsfreiheit (auch für nicht-Muslime) inklusive des Rechts, aus dem Islam auszutreten. Khan erklärt dazu: „Der Glaube ist eine Gewissensfrage, und das Gewissen kann nicht erzwungen werden“. [22] Der Vers „Es soll kein Zwang sein im Glauben“ (2:257) wird neben anderen Versen als Beleg für die absolute Religionsfreiheit angeführt. Weiterhin erklärt Khan, dass Gott selbst dem Menschen die Freiheit gegeben habe, sich für oder gegen den Glauben zu entscheiden, denn es heißt im Koran: „Und hätte dein Herr Seinen Willen erzwungen, wahrlich, alle, die auf der Erde sind, würden geglaubt haben insgesamt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, dass sie Gläubige werden?“ (10:100). Ein Analyse aller Koranverse, die sich mit dem Abfall vom Glauben beschäftigen, führt Mirza Tahir Ahmad zum Resümee, dass es keinen einzigen Hinweis auf eine diesseitige Strafe für Apostasie gebe und die erwähnten Strafen sich allein auf das Jenseits beziehen. Ahmad und auch Khan[23] zeichnen in einem historischen Abriss nach, wie aufgrund einer undifferenzierten Betrachtung der frühislamischen Überlieferungen die Lehrmeinung entstanden sei, Apostasie sei mit dem Tode zu bestrafen. Argumentiert wird, dass Prophetenüberlieferungen, die die Todesstrafe im Zusammenhang mit dem Abfall vom Glauben thematisieren, Fälle von Staats- und Hochverrat behandeln, die damals mit dem Tode bestraft wurden. Dadurch, dass schwere politische Verbrechen während des Krieges mit der Abkehr vom Islam einhergingen, sei es zu einer Gleichsetzung gekommen. Eine solche Auslegung würde jedoch den koranischen Anweisungen eindeutig widersprechen und eine „vollständige Negation der im Qur-ân wiederholt verkündeten Gewissensfreiheit bedeuten“.[24] Mittlerweile wird diese Position mit ähnlicher Argumentation auch außerhalb der AMJ eingenommen.[25] Auch bezüglich der Frage nach dem Umgang mit blasphemischen Äußerungen nimmt die AMJ eine Vorreiterstellung ein. Ahmad erklärt dazu, dass der Koran sich an fünf Stellen mit Gotteslästerung beschäftigt und dabei niemals auf eine weltliche Strafe hinweist.[26] Weltliche Strafen für Blasphemie werden daher abgelehnt und verurteilt sowie als unislamisch bezeichnet.

GLEICHBEHANDLUNG VON MANN UND FRAU

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau betreffend argumentiert Khan, dass die Menschenrechtserklärung ihrem Geiste nach mit der Lehre des Islams übereinstimme, ein wortwörtliches Verständnis jedoch hinsichtlich der Umsetzung bezüglich spezifischer Details auf Differenzen stoßen könne. Während der Islam grundlegend keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern mache und im Koran immer wieder die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau zementiert werde (4:2, 16:98, 4:125, 33:36), gehe er doch davon aus, dass Mann und Frau biologisch unterschiedlich seien und daraus divergierende Funktionen abzuleiten seien (92:5). Allerdings betone der Koran an vielen Stellen die gemeinsamen übergeordneten Ziele und Fähigkeiten von Mann und Frau ohne einen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu machen: „Die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen Freund. Sie gebieten das Gute und verbieten das Böse und verrichten das Gebet und zahlen die Zakât und gehorchen Allah und Seinem Gesandten.“ (9:71). Ferner heiße es im Koran, dass Mann und Frau aus einer Essenz erschaffen worden sind und hinsichtlich ihrer Würde vor Gott gleich sind: „Ich lasse das Werk des Wirkenden unter euch, ob Mann oder Frau, nicht verloren gehen. Die einen von euch sind von den anderen“ (3:196).

Khan stellt heraus, dass der Islam vor dem Hintergrund der vorislamischen Zeit eine Vielzahl an für die damaligen Verhältnisse äußerst fortschrittlichen Rechten für die Frau einführte, wie das Erb- und Scheidungsrecht, mit dem Ziel ihre gesellschaftliche Stellung drastisch zu verbessern. Wenn nun das Erbrecht einen geringeren Anteil für die Frau vorsieht, dann erklärt Khan diesen Umstand mit der Tatsache, dass dem Mann die finanzielle Verantwortung für die Familie übertragen worden sei, während die Frau ihren Besitz völlig unabhängig verwalten könne. Unterschiedliche Rechte in einigen Aspekten versteht er somit nicht als diskriminierend, sondern als gerecht im übergeordneten Sinne, da eine Anpassung an individuelle Bedürfnissen und Umstände jenseits einer künstlich konstruierten absoluten Gleichheit eher der Lebensrealität gerecht würde. Als Beispiel wird angeführt, dass eine Frau während der Schwangerschaft mehr Rechte genießen müsse, als ein Mann, der gemäß der islamischen Lehre die Pflicht habe, für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen. Die Argumentation basiert somit auf einer geschlechterspezifischen Rollenverteilung, die allerdings nicht unter allen Umständen als einzige Form der Lebensweise akzeptiert wird, sondern als Norm gilt, von der Abweichungen möglich sind.

Khan kritisiert in aller Schärfe den Missbrauch islamischer Reglungen und die Unterdrückung der Frau in der sogenannten islamischen Welt als Ausdruck eines generellen Verfalls und der mangelnden Fähigkeit den Geist der spirituellen Botschaft des Islams zu verstehen. Er macht die mangelnde Bildung der Frau über die ihr vom Islam gewährten Rechte und die Fokussierung auf eine buchstäbliche Auslegung der koranischen Lehre verantwortlich für diese Entwicklung zuungunsten der Frau.[27]

Bezüglich der freien Wahl des Partners (Vgl. Artikel 16 der UN-Menschenrechtserklärung) argumentiert Khan mit der erhöhten Schutzbedürftigkeit der Frau, weswegen sie sich Rechtsbeistand einholen und keinen nicht-Muslim heiraten solle, aber keinesfalls gegen ihren Willen verheiratet werden dürfe. Sie hat ferner jederzeit die Möglichkeit außerhalb des Islams eine Zivilehe mit einem nicht-Muslim einzugehen.[28] Ähnlich wird für das Scheidungsrecht argumentiert, das für die Frau ohne Einschränkung gelte: Gemäß eines Hadith reicht als Scheidungsgrund für die Frau, dass sie ihren Mann nicht liebt. Was die Zeugenaussage der Frau angeht, erklärt Ahmad sich auf die Verse 7-10 der Sure 24 beziehend, dass die Aussage einer Frau äquivalent der eines Mannes sei und der Vers 2:283 häufig falsch verstanden werde. Dieser beziehe sich auf finanzielle Transaktionen, die häufig männerdominiert seien, weswegen eine zweite Frau beratend zur Seite stehen könne, ohne jedoch Zeugin zu sein.[29]  Die eheliche Beziehung zwischen Mann und Frau solle von „Liebe und Zärtlichkeit“ (30:22) geprägt sein, vor diesem Hintergrund versteht Ahmad den häufig kritisierten Vers 4:35 als Beschreibung von präventiven Maßnahmen, um dem weit verbreiteten Phänomen der häuslichen Gewalt vorzubeugen und diese zu verhindern und keinesfalls als Aufforderung zur Züchtigung, da dies zudem der Praxis des Propheten widersprach.[30]

FAZIT

Abschließend lässt sich festhalten, dass Khan eine Harmonisierung von islamischem Recht mit moderner Menschenrechtskonzipierung herbeizuführen sucht und durchgängig zum Ergebnis kommt, dass die Idee der Menschenrechte  mit dem Islam zu vereinbaren sei. Er erwähnt jedoch auch, dass trotz der völligen Übereinstimmung des Islams hinsichtlich der grundlegenden Ziele der Menschenrechte, es dennoch nötig sein könne bezüglich der Mittel und Methoden im Konkreten eine kulturelle Anpassung vorzunehmen, die den vorherrschenden Werten der jeweiligen Regionen Rechnung trügen, ohne dem Geist der UN-Menschenrechtserklärung zu widersprechen. In islamischen Gesellschaften müsste in Ausnahmesituationen bei divergierenden Ansichten das islamische Recht priorisiert werden, wenngleich Khan gleichzeitig davon spricht, dass eine „Wiederbelebung und Stärkung der wahren islamischen Werte zu Erreichung der Ziele der Erklärung nützlich und förderlich“ sei.

Er weist ferner darauf hin, dass obschon die Erklärung mit dem Islam in Einklang stehe, die Religion einen anderen Ansatz verfolge. Während die Menschenrechtserklärung als politisch-rechtliches Konzept das Wohlergehen des Menschen auf materieller Ebene sicherstellen zu sucht, geht es der Religion darüber hinaus um Sinnfragen und die moralische und spirituelle Entwicklung des Menschen. Erst die lebendige Beziehung zu Gott öffne den Menschen für die Erkenntnis der Einheit des Menschen, die unmittelbar auf die Einheit des Schöpfers zurückzuführen sei. Wahrer vereinender Humanismus auf universeller Basis könne nur durch den festen Glauben an die Einheit des gemeinsamen, barmherzigen Gottes erreicht werden. Er weist damit auf die Notwendigkeit einer inneren Überzeugung zur Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit hin, da schließlich auch Länder, die offen für die Menschenrechte eintreten teilweise selbst gegen diese verstoßen, wenn es zu ihrem Vorteil zu sein scheint.[31] Die Intention aller im Islam beschriebenen Reglungen sei eine harmonische Gesellschaft, die durch die Liebe zum barmherzigen Schöpfer ein hohes Maß an Mitgefühl für die Schöpfung sowie an Menschlichkeit und Gerechtigkeit entfalte und damit eine Grundlage für die bestmögliche Umsetzung der UN-Menschenrechtserklärung lege.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR:

Hübsch, Khola Maryam: Selbst- und Fremdbilder der muslimischen Frau. In: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): „Als Mann und Frau schuf er sie“. Religion und Geschlecht. Würzburg: Ergon Verlag 2013.

Hübsch, Khola Maryam: Toleranz in der Ahmadiyya Muslim Jamaat. In: Yousefi, Hamid Reza und Seubert, Harald: Toleranz im Weltkontext: Geschichten – Erscheinungsformen – Neue Entwicklungen. Springer VS 2012.


[1] Khan, Muhammad Zafrullah: Islam and Human Rights. Tilford, 1967.

[2] Bielefeldt, Heiner: „Westliche“ versus „islamische“ Menschenrechte? Zur Kritik an kulturalistischen Vereinnahmungen der Menschenrechtsidee. In: Rumpf, Mechthild/ Gerhard, Ute & Jansen, Mechthild M. (Hrsg.): Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion. Bielefeld, 2003.

[3] Ahmad, Rafi: Islam, Universal Human Rights, and Cairo Declaration. In: alislam.org/e/924(Stand 27. November 2011).

[4] Vgl. Kalisch, Muhammad: Islam und Menschenrechte: Betrachtungen zum Verhältnis von Religion und Recht. In: Elliesie, Hatem (Hrsg.): Beiträge zum islamischen Recht VII. Islam und Menschenrechte. Frankfurt/ Main 2010. S. 49-72, darin: S. 59.

[5] Khan, Muhammad Zafrullah: Islam und Menschenrechte. Frankfurt/ Main, 2004. S. 75.

[6] Ebd., S. 74.

[7] Ebd. S. 145.

[8] Alle Koranverse zitiert nach: Ahmad, Mirza Masror (Hrsg.): Der Heilige Qur-ân – Der Koran, Frankfurt/ Main, 2009. Anmerkung: Im Vergleich zu anderen Koranübersetzungen ist hier die Zählung derart, dass die einleitende Formulierung »Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen« als Vers mitgezählt wird, weswegen es zu meist zu Verschiebungen um einen Vers kommt.

[9] Vgl. Sure 17:71, 95:5.

[10] Vgl. Schirrmacher, Christine: Islamische Menschenrechtserklärungen und ihre Kritiker – Einwände von Muslimen und Nichtmuslimen gegen die Allgültigkeit der Scharia. In: www.igfm.de/Islamische-Menschenrechtserklaerungen-und-ihre-Kritiker-Eiwaen.1035.0.html (Stand 27.November 2012). Bezugnehmend auf die Präambel der KEM: „ (…) und seine Freiheit und sein Recht auf ein würdiges Leben in Einklang mit der islamischen Scharia zu bestätigen“

[11] Ahmad, Mirza Masroor: The Path to Peace – Just Relations between Nations. Rede am 27. Juni 2012 im Capitol Hill, in Washington D.C., siehe www.alislam.org/egazette/press-release/khalifa-of-islam-makes-historic-address-at-capitol-hill/  (Stand 27. November 2012).

[12] Al-Khalili, Jim: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Frankfurt/ Main. S. 376.

[13] Salam, Abdus: Islam and science – concordance or conflict.  Rede vom 27. April 1984 im UNESCO house in Paris, siehe www.alislam.org/library/articles/Islam-and-Science-Concordance-or-Conflict.pdf.

[14] Vgl. Khan, Islam und Menschenrechte, S. 84.

[15] Vgl. Ahmad, Mirza Ghulam: The Philosophy of the Teachings of Islam. Tilford, 1979. Original auf Urdu: “Islami Usul Ki Philosophy”, 1905.

[16] Ahmad, Mirza Tahir: Interpretation of Sharia (Part Two). In: Review of Religions, 07/2002, S. 45.

[17] Vgl. Ahmad, Mirza Tahir: Zum Verhältnis von Scharia und Staat. Frankfurt/ Main, 2011, S. 39.

[18] Ahmad, Mirza Tahir: Zum Verhältnis von Scharia und Staat, Frankfurt/  Main, 2011, S. 40

[19] Vgl. Khan, Islam und Menschenrechte, S. 9.

[20] Ahmad, Mirza Tahir: Murder in the Name of Allah, Cambridge, 1989, S. 74ff. Original in Urdu: Mazhab ke Nam per Khoon, 1959.

[21] Ahmad, Rafi: Islam, Universal Human Rights, and Cairo Declaration. a.a.O. (Fn 3), Vgl.: Bielefeldt, Heiner: „Westliche“ versus „islamische“ Menschenrechte? a.a.O. (Fn 2), S. 135.

[22] Khan, Islam und Menschenrechte, S. 130.

[23] Vgl. Ahmad, Mirza Tahir: Murder in the Name of Allah, a.a.O. (Fn 20). Und: Khan: Menschenrechte, S. 154, sowie www.alislam.org/books/apostacy/index.html (Stand 27. November 2012).

[24] Khan, Islam und Menschenrechte, S. 153.

[25] Vgl. Frank Griffel: Apostasie und Toleranz im Islam. Leiden/ Boston / Köln 2000; sowie: Hefny, Assem: Hermeneutik, Koraninterpretation und Menschenrechte. In: Elliesie, Hatem (Hrsg.): Beiträge zum islamischen Recht VII. Islam und Menschenrechte. Frankfurt/ Main 2010. S. 73-97.

[26] Vgl. Ahmad, Mirza Tahir: Islam’s Response to Contemporary Issues. Tilford, 1997, S. 48-52.

[27] Khan, Islam und Menschenrechte,  S. 150 ff.

[28] Vgl. Ebd,  S. 124.

[29] Ahmad, Tahir: www.askislam.org/society/women/question_376.html (Stand 27. November 2012).

[30] Ahmad, Mirza Tahir Ahmad in: Liqa Ma´al Arab, Mai 1997, siehe: www.alislam.org/v/c-17.html?page=9 (Stand 27. November 2012).

[31] Vgl. Amirpur, Katajun: Sind Islam und Menschenrechte vereinbar? In: Rumpf, Mechthild/ Gerhard, Ute & Jansen, Mechthild M. (Hrsg.): Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion. Bielefeld, 2003. S. 163-178, darin: S. 174.

Bildquelle: Humanity First USA