Der Islam braucht eine Reformation. Das ist kein Ruf nach einem muslimischen Luther, sehr wohl aber nach einer Auseinandersetzung darüber, wie wir unsere Religion interpretieren. Wie aber können wir diese Auseinandersetzung so führen, dass sie auch von der muslimischen Gemeinschaft getragen und akzeptiert wird?

Jeder reformatorische Ansatz muss zunächst damit umgehen, dass der Koran im Islam als wortwörtliche Offenbarung Gottes an den Propheten Mohammed gilt. Reformer, die den Ursprung der Formulierungen des koranischen Wortlauts hinterfragen, bewegen sich für viele daher bereits außerhalb des Islams; ihr Einfluss bleibt deshalb begrenzt. Eine Reform, die fruchtbar sein will, muss ihren Ausgang beim Koran nehmen. Indem sie herausarbeitet, dass dessen historische Genese für sein Verständnis unabdingbar ist, kann sie eine plausible Interpretation des Korans in zentralen Fragen geben, etwa der Doktrin des Dschihads, des Verhältnisses der Scharia zum weltlichen Gesetz und der Gleichwertigkeit der Geschlechter.

Funktionäre islamischer Verbände in Deutschland scheuen oft die Frage nach der Exegese von Koranversen, die als heikel gelten. Lieber geben sie den Medien die Schuld am schlechten Image des Islams.

Reform geht anders. So erklärte bereits Ende des 19. Jahrhundert Mirza Ghulam Ahmad, Begründer der Bewegung Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ), die Muslime selbst seien dafür verantwortlich, dass der Islam als gewalttätige Religion gelte. Schon damals nahm Ahmad der Koranexegese ihre Willkürlichkeit: Da der Koran für sich beanspruche, ein widerspruchsfreies Buch zu sein, müsse er auch so interpretiert werden, dass kein Vers dem anderen widerspreche. Wenn es nun Verse gebe, die von Gewalt im Krieg handelten, und andere, die vom barmherzigen Gott und vom Frieden sprächen, bedeute dies, dass Gewalt nur zur Verteidigung angewendet werden dürfe. Die Vernunft gebiete es, eine allgemeingültige Ethik zu trennen von mehrdeutigen Versen, die sich auf konkrete Situationen beziehen. Der Koran selbst besagt dies in der Sure 3: „Es sind Verse von entscheidender Bedeutung – sie sind die Grundlage des Buches – und andere, die unterschiedlich gedeutet werden können. Die aber, in deren Herzen Verderbnis wohnt, suchen gerade jene heraus, die verschiedener Deutung fähig sind.“

Die Koranexegese der Extremisten krankt also an einer obsessiven Verengung auf einen Gesetzesislam, der nur haram und halal, verboten und erlaubt, kennt. Und sie geht einher mit einem Mangel an Vernunft und Spiritualität. Es fehlt die Erkenntnis, dass der Mensch in eine lebendige Beziehung zu Gott treten kann, die ihn dazu bringt, aus Liebe moralisch und selbstlos zu handeln. Der Islam, so Ahmad, benötige kein Schwert, sondern eine intellektuelle Auseinandersetzung.

Trotz Verfolgung und Zensur in der islamischen Welt ist die AMJ kontinuierlich gewachsen. Heute hat sie mehrere zehn Millionen Mitglieder in 195 Staaten. In Deutschland hat die AMJ 2013 als erste muslimische Gemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes erlangt.

Die AMJ wird von einem Kalifen geleitet, der sich als geistliches Oberhaupt versteht. Die Reformbewegung plädiert für eine strikte Trennung von Staat und Religion und lehnt eine weltliche Führerschaft für sich ab. Damit verkörpert der Kalif der AMJ die Antithese zum Kalifatsanspruch des „Islamischen Staats“ (IS). Gerade die für viele Muslime schwierige Frage, ob das weltliche Gesetz Vorrang vor dem religiösen habe, hat die AMJ geschickt aufgelöst: Der Koran betone, dass man den Gesetzen des Landes gehorchen müsse, möchte man nicht auswandern. Daher gebiete es die Scharia selbst, das weltliche Gesetz zu befolgen.

Und auch zum Dschihad gibt es eine klare Positionierung: Der bewaffnete Kampf sei unzeitgemäß, denn in der Tradierung heißt es, der Messias würde die religiösen Kriege abschaffen. Dem Dschihad mit der Waffe wird die religiöse Legitimität abgesprochen. Erlaubt sei nur mehr der „Dschihad mit den Worten und der Feder“. Der angekündigte Kampf gegen den Unglauben könne kein kriegerischer sein, sondern müsse intellektuell ausgetragen werden. Das ist ein wichtiger Ansatz, wenn man bedenkt, dass viele dschihadistische Bewegungen unserer Zeit ihre Wurzeln im Widerstand gegen den Kolonialismus haben. Die religiöse Befreiung wird als geistige verstanden. Dies dürfte der Grund sein, warum die AMJ als einzige muslimische Organisation gilt, die über keinen militanten Flügel verfügt und keine ihrer Jugendlichen an die Dschihadisten verliert.

Warum aber hören wir so wenig von dieser Auslegung des Islams, die eine lange Tradition hat? Warum dominiert das Narrativ der extremistischen Strömungen? Das liegt vor allem an den autoritären Regimen in der islamischen Welt, die reformerische Ansätze zensieren, während sie orthodoxe Positionen zum Mainstream avancieren lassen. Damit legen sie das Fundament für die Instrumentalisierung der Religion durch Dschihadisten.

Daher sind die Muslime selbst gefragt – und der Westen. Die Muslime sollten aufhören, reformerische Positionen von vornherein abzuwerten, ohne sich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. Erst dann kann ein Dialog entstehen. Der Westen wiederum kann einen Beitrag leisten, indem er reformerischen Stimmen den Raum gibt, den bisher extremistisches Geschrei für sich beansprucht. So könnte er auch seinen Bürgern die Angst vor einem gewalttätigen Islam nehmen. Denn erst wenn wir die unterschiedlichen reformerischen Kräfte kennen und ihre Argumente diskutieren, wird sich wieder ein aufgeklärter Islam entwickeln können.

Erschienen am 17.12.2014 in der ZEIT, Nr. 52/2014, siehe hier