Über Freiheit, Glaube, Gottesliebe – und was das Kopftuch mit all dem zu tun hat

Publik-Forum: Frau Hübsch, Ihr neustes Buch heißt »Unter dem Schleier die Freiheit«. Wie fühlt sich diese Freiheit für Sie an?

Khola Maryam Hübsch: »Freiheit ist, in Gott gefangen zu sein«. Das hat Mirza Ghulam Ahmad einmal gesagt, der Begründer der islamischen Reformbewegung Ahmadiyya Muslim Jamaat. Diese Ansicht teile ich. Das hört sich zunächst nach einem Widerspruch an, aber es ist keiner. Denn wir Menschen sind doch immer abhängig von dem, was uns umgibt: Von anderen Menschen, von äußeren Umständen. Nur Gott ist komplett unabhängig. Das bedeutet für mich: Wenn ich mich nur von Gott abhängig mache, ist alles möglich. Dann muss ich vor nichts und niemandem Angst haben. Eine lebendige Beziehung zu Gott macht mich frei, weil es keine Grenzen gibt, keine Schranken. Gott ist allmächtig, und wenn ich ihm vertraue, ist alles möglich, alles! Das ist ein wunderbares Gefühl von Freiheit.

Sie schreiben viel darüber, was das Kopftuch nicht symbolisiert, nämlich Rückständigkeit oder die Unterdrückung der Frau. Mal konkret: Warum tragen Sie es?

Hübsch: Ich trage es aus religiösen Gründen, als Ausdruck meiner Liebe zu Gott. Es erinnert mich an meinen Schöpfer, an meine Spiritualität und meine Beziehung zu Gott. Das beflügelt mich. Der Islam ist eine ganzheitliche Religion: Die innere Haltung beeinflusst das Äußere, und andersherum spiegelt sich auch im Aussehen eines Muslim die innere Geisteshaltung wider. Das sieht man zum Beispiel auch im rituellen Gebet. Ich verbeuge mich dabei mit meinem ganzen Körper, es ist eine Geste der Demut. Aber die Geste alleine nützt natürlich nichts, wenn damit keine innere, spirituelle Haltung einhergeht.

Ist das Kopftuch nicht eher eine kulturelle als eine religiöse Tradition?

Hübsch: In einem Ausspruch des Propheten heißt es: Taten werden nach ihren Absichten belohnt. Das heißt, die Tatsache, dass man sein Haar bedeckt, sagt erst einmal gar nichts über die individuellen Absichten der Kopftuchträgerin aus, die sehr unterschiedlich sein können. Es gibt zwar auch eine kleine Minderheit muslimischer Exegeten, die der Meinung sind, ein Kopftuchgebot sei im Koran nicht zu finden. Die große Mehrheit beruft sich jedoch auf zwei Stellen im Koran (24:31; 33:59), die in der Regel so ausgelegt werden, dass muslimischen Frauen ihr Haar bedecken sollten.

Warum ist es Ausdruck von Gottesliebe, die Haare zu verhüllen?

Hübsch: Wenn ein Mensch als Ausdruck seiner Liebe etwas tut, das eine gewisse Überwindung kostet, aber eine aufrichtige, demütige Reflexion ihn zu der Einsicht führt, dass in der Befolgung der Gebote Gottes eine tiefe Weisheit liegt, dann ist das eine Form von Hingabe. Gerade wenn man gegen alle gesellschaftlichen Widerstände seinem Glauben treu bleibt, stärkt das die Liebesbeziehung zwischen Mensch und Gott. Es geht also nicht um das Kopftuch: Es geht um die Einstellung, das zu tun, was man für richtig hält, sich selbst zu hinterfragen, Gottes Gebote ernst zu nehmen und darüber zu reflektieren und letztlich sein Ego zu überwinden, um dadurch offen zu werden für die Liebe Gottes.

Sie waren in der Pubertät, als Sie sich entschieden haben, ein Kopftuch zu tragen. Was hat sich damit für Sie verändert?

Hübsch: Generell habe ich mehr Ablehnung erfahren und wurde auf einmal als Ausländerin wahrgenommen. Vorher gehörte ich zum »Wir« – danach war ich »die Andere«. Auffällig war auch, dass neue Lehrer, die mich erst als Kopftuchträgerin kennenlernten, mich in den meisten Fällen unterschätzten. Ich war eine gute Schülerin, aber das musste ich vielmehr beweisen als zuvor. Ich bin aber durch diese Entscheidung auch viel selbstbewusster geworden.

Warum ist die Ansicht, das Kopftuch unterdrücke die Frau, noch so weit verbreitet?

Hübsch: Das scheint mir eine Art kollektives Unterbewusstsein zu sein. Denn im Christentum wird die Verschleierung bei Paulus tatsächlich als ein Zeichen für die Unterordnung der Frau beschrieben. Das steht in den Korintherbriefen (1Kor 11,2 – 16), auch wenn Männer und Frauen dort die gleiche Würde haben. Im Koran findet sich keine Erklärung, die das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung beschreibt. Es wird also Negatives aus der eigenen Tradition auf das islamische Kopftuch projiziert.

Gibt es auch noch andere Gründe?

Hübsch: Natürlich haben die negativen Assoziationen auch mit der Lebensrealität in der islamischen Welt zu tun. Vieles wird von den totalitären Regimen dort religiös begründet, auch wenn das Unsinn ist. Zum Beispiel, dass Frauen in Saudi-Arabien nicht Autofahren dürfen. Da diese Frauen nun mal Kopftuch tragen, fällt ihre Unterdrückung auf das Tuch zurück. Das Kopftuch wird teilweise politisch benutzt und instrumentalisiert. Da ist es wichtig, dass wir kopftuchtragenden Frauen die Deutungshoheit zurückgewinnen. Wenn ich für das Kopftuch argumentiere, dann unter der Prämisse, dass es freiwillig getragen wird! Wir müssen auch unterscheiden zwischen Deutschland und anderen Ländern. Studien haben ergeben, dass 90 Prozent der Frauen hierzulande es aus freiem Willen als Ausdruck ihrer Religiosität tragen.

Das islamische Gebet mit seinem Niederwerfen und Aufstehen ist für viele Nicht-Muslime fremd und faszinierend. Was empfinden Sie, wenn Sie beten?

Hübsch: Sehr intensiv im Gebet zu sein ist für mich die schönste Form des Glücks. Das gelingt mir besonders nachts gut. Das Morgengebet, das wir vor Sonnenaufgang verrichten, mag ich sehr gerne. Wenn es draußen noch dunkel ist und alles ganz still ist, kann ich mich komplett öffnen und mein Herz ausschütten. Manchmal geht das auch einher mit einem gewissen Schmerz, einer Sehnsucht. Da fließen auch Tränen.. In einem intensiven Gebet merke ich, dass eine Verbindung entsteht. Dass Gott da ist und mir zuhört und vor allem auch antwortet. Im Niederwerfen wird man sein Ego los und macht sich seine Schwächen und Fehler bewusst. Ich kann mich ein Stück weit von ihnen freimachen, wenn ich bete. Und Gott verzeiht. Das lehrt auch Demut.

Beten Sie auf Arabisch oder auf Deutsch?

Hübsch: Beides. Ein islamisches Gebet besteht aus zwei Teilen: Einer festen Komponente, die man – oft gemeinsam mit anderen Gläubigen – in arabisch spricht, und dann einem persönlichen Teil. Den spreche ich auf Deutsch. Das ist der Part, wo wir uns verbeugen. Den kann jeder Gläubige so gestalten, wie und so lange er will. Es heißt zwar oft, der Islam sei eine Religion des Kollektivs, aber das sehe ich nicht so. Es gehört beides zusammen, Gemeinschaft und Individuum. Das Mittagsgebet zum Beispiel hat zwölf Einheiten: Vier und zwei werden alleine gebetet, ganz individuell, und vier in Gemeinschaft – immer im Wechsel.

Ist das fünfmalige Beten am Tag nicht ziemlich anstrengend?

Hübsch: Ich empfinde das nicht als Bürde oder Last, sondern eher als Nahrung für die Seele. Wenn ich unterwegs bin, lege ich schon mal zwei Gebete zusammen. Aber generell genieße ich es, mir diese paar Minuten zu nehmen und mir dadurch innerlich Freiräume zu schaffen. Die Herausforderung ist, sich nicht vom Alltagstrott einlullen zu lassen. Oft kreisen die Gedanken darum, was man noch alles erledigen muss. Das Beten reißt mich raus aus dem Hamsterrad des Funktionieren-müssens. Es ist jedes Mal eine Art Neustart. Ich kann wieder klar im Kopf werden, mich besinnen, meditieren. Mich auf die Fragen konzentrieren: Was erfüllt mich? Warum lebe ich?

Wer ist Gott für Sie? Ein strenger, strafender Gott, oder ein liebender, barmherziger, der uns annimmt, wie wir sind?

Hübsch: Ein Großteil aller Suren des Koran beginnt mit den Worten: »Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen«. Da wird das Gottesbild schon deutlich. Für mich war Allah nie der strafende Gott. Wenn er straft, dann um Besserung zu bewirken, um uns wieder zurück auf den rechten Pfad zu führen. In 90 Prozent aller Fälle bewirkt Vergebung Besserung. Aber in zehn Prozent lässt Gott uns stolpern und auch mal hinfallen, damit wir lernen. Diese Strafe ist dann aber ein Zeichen der Gnade Gottes, eine Art Wachrütteln.

Haben Sie einen Lieblingsvers im Koran?

Hübsch: Nur einen einzigen Vers auszuwählen, fällt mir schwer. Aber diesen hier mag ich besonders gerne: »Ich bin nahe. Ich antworte dem Gebet des Bittenden, wenn er zu Mir betet.« (2:187) Das sagt Allah über sich im Heiligen Koran. Gott ist kein abstraktes, totes Wesen, sondern ist uns näher als unsere Halsader, wie es in einem anderen Koranvers heißt. Gott ist lebendig, er offenbart sich. Er spricht zum Menschen, so wie er immer schon zu den Menschen gesprochen hat. Das ist worum es im Islam geht: Die Kommunikation mit Gott – wer diese Erfahrung gemacht hat, der glaubt nicht mehr, der weiß, der kennt Gott.

Interview: Elisa Rheinheimer-Chabbi

Was der Islam mit Liebe und Sexualität zu tun hat und wie er zu einer Emanzipation der Frau beitragen kann, verrät Khola Maryam Hübsch im Interview auf www.publik-forum.de.