Junge, alkoholisierte Männer mutmaßlich nordafrikanischer Herkunft belästigen in der Silvesternacht Frauen, etwa 450 Strafanzeigen wegen sexueller Übergriffe gehen bei der Polizei ein. In den Tagen und Wochen danach entzündet sich eine rassistische Debatte über die Ursachen der sexuellen Gewalt. Objektiv betrachtet, gäbe es eine Reihe von Faktoren, die als Gewalt begünstigende Elemente problematisiert werden könnten.
Die starke Korrelation zwischen enthemmendem Alkoholkonsum und sexueller Gewalt ist hinlänglich bekannt, wird aber nicht thematisiert.[1] Denn Alkohol ist Bestandteil der Alltagskultur und steht nicht zur Disposition. Man könnte auch nach dem Einfluss sexistischer Frauenbilder in der Massen- und Populärkultur fragen – doch auch das würde bedeuten, sich selbst und seine eigene Kultur hinterfragen zu müssen. Der weiße, heteronormative Mann jedoch belästigt keine deutschen Frauen – das ist zumindest das Idealbild, das durch die Auslagerung des Problems auf den muslimischen Mann zementiert werden soll.
Studien, die belegen, dass auch jede zweite Frau in Europa bereits Opfer sexueller Gewalt geworden ist, und die Warnung der Weltgesundheitsorganisation, die von einem „epidemischen Ausmaß“ der Gewalt gegen Frauen weltweit spricht und sie als großes, globales Phänomen beschreibt, können so verdrängt werden. Denn, so wird behauptet, die Dimensionen der sexuellen Gewalt auf der Kölner Domplatte seien nicht zu vergleichen mit dem, was Frauen in Deutschland an alltäglichem Sexismus gewohnt sind. Der Gedanke scheint nahezuliegen, dass die Kultur des nordafrikanischen Mannes dafür ursächlich verantwortlich sein müsse. Auch wenn also der gesellschaftlich akzeptierte Umgang mit der Droge Alkohol und eine sexistische Populärkultur möglicherweise begünstigende Faktoren dafür sein könnten, dass sowohl auf jeder größeren Massenveranstaltung in Deutschland als auch im Alltag Frauen regelmäßig Opfer sexueller Gewalt werden, wird allein die Kultur „des“ muslimischen Mannes als Hauptursache sexueller Belästigung ausgemacht. „Köln“ wird instrumentalisiert, um den Faktor „nichtdeutscher Herkunft“ zum Gütesiegel von sexualisierter Gewaltfreiheit zu machen.
Aus der Forschung zu den Ursachen sexueller Gewalt ist jedoch bekannt, dass diese in den allermeisten Fällen nicht sexuell motiviert ist, sondern der Wunsch nach Macht und Kontrolle im Vordergrund steht. Es geht um die Demütigung des Opfers und die damit verbundene Erfahrung, herrschen zu können. Gerade bei jungen Männern spielt zudem das Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung einer dominanten Männlichkeit eine zentrale Rolle. Die Sozialwissenschaftlerin Susanne Spindler beschreibt in diesem Zusammenhang, dass marginalisierte Jugendliche, denen Formen anerkannter Männlichkeit aufgrund von soziostruktureller Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen versagt bleiben, eine höhere Anfälligkeit dafür zeigen, sich auf extrem körper- und gewaltbetonte Formen der Männlichkeit zu beziehen. Der Rückzug der jungen Männer auf den Körper sei die „letzte ihnen bleibende Ressource“, ihre Männlichkeit wiederherzustellen.[2]
Die Berücksichtigung solcher sozioökonomischer und sozialpsychologischer Faktoren würde jedoch bedeuten, dass auch der weiße Mann in ähnlichen Umständen anfällig für ein ähnliches Verhalten sein könnte. Es würde bedeuten, dass das Problem der sexuellen Gewalt auch ein Problem westlicher Gesellschaften ist und bestimmte Umstände und Faktoren die Lage auch in Deutschland verschärfen könnten. Werden dagegen die Herkunft, Kultur und Religion des fremden Orientalen verantwortlich für die sexuellen Übergriffe gemacht, kann das Problem ausgelagert werden – es ist ein Problem des Anderen.
„Der muslimische Mann“ wird als Barbar konstruiert, um als Kontrastfolie dabei zu helfen, das Idealbild des weißen Mannes als aufgeklärten, fortschrittlichen und moralisch überlegenen Gentleman zu inszenieren. Die Dämonisierung des muslimischen Mannes als Wilder hat also eine Entlastungsfunktion: Wenn patriarchale Gewalt und Sexismus in erster Linie im Orient verortet und nicht in den europäischen, gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt werden, gelingt es, Diskursüberlegenheit zu konstituieren. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft scheint es dann keinen Handlungsbedarf in Sachen sexueller Gewalt zu geben. Das Problem ist schließlich „der“ muslimische, fremde Mann. Handlungsbedarf besteht dann lediglich darin, den gefährlichen Muslim in seine Schranken zu weisen beziehungsweise ihn loszuwerden. Die Projektion des Problems auf den orientalischen Mann verhilft also dazu, Legitimationsgründe für eine schärfere Asyl- und Flüchtlingspolitik zu schaffen. Die alte Methode, die Abwehr des politischen Feindes durch Dehumanisierung und Dämonisierung zu rechtfertigen, kommt auch hier zum Einsatz: Indem der Migrant oder Flüchtling als Barbar und Frauenvergewaltiger gezeichnet wird, kann eine politisch gewünschte Agenda forciert werden, auch wenn sie den Genfer Konventionen zuwiderläuft.
Dass die Imagination idealisierter Selbstbilder und stigmatisierender Fremdbilder dazu dient, eigene hegemoniale Interessen durchzusetzen, ist nicht neu. Die „Kulturalisierung“ ist eine Strategie, Hegemonie zu konstruieren, die Rassismus hinter Markern kultureller Überlegenheit wie Zivilisation und Fortschritt zum Verschwinden bringt, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze. Die „Kulturalisierung von Geschlecht“, so Dietze, greife dabei auf „das naheliegendste Modell von ‚kulturalisierter‘ Herrschaft zu, nämlich der des Mannes über die Frau“.[3]
Die Analysen der Post Colonial Studies zeigen, dass auch während der Kolonialzeit die Konstruktion eines „unzivilisierten“, „rückständigen“ und „dekadenten“ Orients dazu diente, hegemoniale Ansprüche zu legitimieren und die Unterdrückung und Kolonialisierung anderer Völker zu rechtfertigen. In der Kolonialzeitrhetorik galt die Befreiung der muslimischen Frau vom lüsternen, muslimischen Mann, der die Frau zur Verhüllung zwinge, als wichtiges Ziel. In Algerien führte dies etwa zu öffentlichen Zeremonien kollektiver Zwangsentschleierungen. Die Unterdrückung durch den britischen Kolonialapparat wurde also dadurch verschleiert, dass Frauen im Namen der Emanzipation entschleiert wurden. Dieses Narrativ wurde und wird seit jeher immer wieder bemüht: Lord Cromer etwa, der britische Kolonienverwalter, gerierte sich als Vorkämpfer der Frauenbefreiung in Ägypten, während sein „feministisches Engagement“ zuhause darin bestand, gegen das geforderte Frauenwahlrecht zu kämpfen. In den Kolonien dagegen wurde die Überlegenheit des Westens damit begründet, die christliche Lehre beinhalte den Respekt vor Frauen, wohingegen sich in der behaupteten Degradierung der Frau im Islam die „Minderwertigkeit des moslemischen Mannes“ manifestiere.[4]
Diese Form des Othering und des Orientalismus weißer Feminismen in Deutschland wird immer wieder sichtbar, wenn man etwa bedenkt, dass die völkerrechtswidrige militärische Intervention in Afghanistan (2001) und in den Irak (2003) unter anderem auch mit der Notwendigkeit der Befreiung oder Entschleierung der Frau legitimiert wurden.[5] Die seit Jahrhunderten bestehenden Stereotype vom muslimischen Mann, der seine Sexualität nicht unter Kontrolle habe, und der befreiungsbedürftigen muslimischen Frau werden also regelmäßig aktualisiert. Der Westen hat dem hier bemühten Mythos zufolge die humanistische Pflicht, Frauen aus den Fängen ihrer rückständigen und gewalttätigen Männer zu befreien. Misstrauisch werden sollte man also, wenn Rettungsaktionen nach folgendem Schema angekündigt werden: „White men are saving brown women from brown men.“[6] Im Kontext von Köln ist es nun „die“ weiße Frau, die vor dem „braunen Mann“ beschützt werden muss, wie nicht zuletzt zahlreiche Titelbilder suggerieren.
Antimuslimische Positionen begründen ihre Legitimierung demzufolge auch mit dem Eintreten für Frauenrechte, das heißt, feministische Diskurse werden instrumentalisiert, um rassistische Motive unkenntlich zu machen. Gerade der Themenkomplex Frauen und Sexualität ist neben dem der Gewalt bereits seit den Kreuzzügen das zentrale Thema antimuslimischer Propaganda. Während Muslimen damals jedoch eine allzu große Sinnlichkeit und Libertinage vorgeworfen wurden, hat sich das Fremdbild heute in das Gegenteil verkehrt. Immer noch gilt allerdings „die“ Sexualität „des“ muslimischen Mannes als gefährlich, auch weil sie als die eigene Vormachtstellung bedrohend empfunden wird und ein Konkurrenzverhältnis zwischen alteingesessenen und neu hinzugekommenen Männern befürchtet wird.[7]
Kulturrassismus – das aktuelle Problem in Deutschland
Kulturelle Dominanz und die Sicherung von Privilegien bzw. die Angst, diese zu verlieren, bilden dementsprechend ein Motiv für antimuslimischen Rassismus. Dieser speist sich dadurch, dass soziale Verhaltensweisen zu unveränderlichen Eigenschaften von Muslimen naturalisiert werden und damit Kultur als das konstruiert wird, was vorher als „Natur“ (der Barbaren) die Grundlage rassistischen Denkens bildete. Der antimuslimische Rassismus argumentiert nicht mehr biologistisch, sondern kulturalistisch anhand von religiösen Zuschreibungen, es handelt sich also um einen „Rassismus ohne Rassen“, um Kulturrassismus.[8] Es ist nun die Religion und Kultur der Muslime, die als grundsätzlich minderwertig gekennzeichnet und in Abgrenzung zu einer als höherwertig verstandenen westlichen oder christlich-abendländischen Kultur dichotom kreiert wird. Diese „ideologische Konstruktion legitimiert rassistische Praxen der Ausgrenzung, Marginalisierung und Verfolgung“, so die Historikerin Yasemin Shooman.
Diese führt dazu, dass über das Narrativ der Frauenbefreiung die Überlegenheit der eigenen Kultur über die andere Kultur behauptet werden kann und dabei gleichzeitig der patriarchale Charakter der einheimischen Kultur unsichtbar gemacht wird. Es zeigt sich darin auch das Bedürfnis, den Sexismus „wenigstens in orientalisierten und ethnisierten äußeren und inneren Fernen radikal, entschieden und kompromisslos“ zu bekämpfen.[9] Es geht also indirekt auch darum, sich nach innen auf bestimmte Ideale zu verpflichten, indem über die Abgrenzung zum als homogen rückständig gebrandmarkten Fremden eine „Normverdeutlichung und -durchsetzung“ erreicht wird.[10] Das Fremdbild ist dabei immer auch eine Kehrseite des Selbstbildes, dessen negative Elemente durch Projektionen auf das Fremde externalisiert werden. Je größer die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist, desto größer erscheint das Bedürfnis, seine eigene Fortschrittlichkeit über die Abwertung und Stigmatisierung des Anderen unter Beweis zu stellen.
Eine weitere Funktion dieser Projektion ist, dass die grundsätzliche Kritik an sexualisierter Männerherrschaft schärfer formuliert werden kann als der problembehaftete Sexismus-Vorwurf an die hiesigen Männer. Es können dann auch eher weiß-männliche Allianzpartner aus allen Lagern gewonnen werden. Durch die Ethnisierung der Sexismus-Kritik in die Fremde gelingt es, der problematischen Konfrontation im Nahbereich auszuweichen und neue Verbündete zu finden, so Gabriele Dietze. Denn während sich für gewöhnlich die Mehrheit der Bevölkerung kaum für sexualisierte Gewalt interessiert und gerade reaktionäre sowie bürgerlich-konservative Kreise diese häufig zu bagatellisieren versuchen, bewirkt der imaginierte oder reale Sexismus des fremden Mannes Bündnisse für das Frauenrechtsprojekt über alle Lager hinweg. Ganz im Geiste von Lord Cromer wird der Sexismus des Fremden gern bekämpft, während Frauenrechtsforderungen zuhause abgewehrt werden.
Auch wenn aus feministischer Perspektive alle Traditionen und kulturelle Einflüsse, die Frauen unterdrücken, kritisierbar bleiben müssen und kulturelle Erklärungsmuster berücksichtigt werden sollten – unabhängig davon woher sie kommen –, fällt auf, dass die öffentliche Debatte das Problem auf Wertvorstellungen der Migrant_innen reduziert bei gleichzeitiger Ausblendung der sozioökonomischen Situation und des hiesigen Patriarchats.
Problematisch ist hierbei, dass die migrantische Kultur als homogenes und nach außen abgeschlossenes Gebilde gedacht wird, wodurch es zu einer Kulturalisierung des Diskurses kommt. Es gilt auf die interne Heterogenität und externe Durchlässigkeit von Kultur hinzuweisen und zu berücksichtigen, dass allein dadurch Faktoren, die das eigene Patriarchat zementieren, auch auf die hier lebenden Migrant_innen wirken. Es stellt sich dann tatsächlich die Frage, wie man den neu hinzugekommenen Menschen glaubhaft vermitteln will, dass Frauen in Deutschland respektiert werden, wenn über die Massen- und Populärkultur die Sexualisierung und Objektifizierung von Frauen im öffentlichen Raum akzeptiert ist.
[1] Vgl. Abbey, Antonia (2011): Alcohol’s role in sexual violence perpetration. Theoretical explanations, existing evidence and future directions. Drug and Alcohol Review 30 (5), S. 481–489.
[2] Spindler Susanne (2006): Corpus delicti. Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten, Münster, S. 316.
[3] Dietze, Gabriele (2014): Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik. Spuren einer unheimlichen Beziehung. In: Diesseits der imperialen Geschlechterordnung. (Post-)koloniale Reflexionen über den Westen, Bielefeld, 241–275. S. 29.
[4] Vgl. Braun, Christina von/ Mathes, Bettina (2007): Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin, S. 312 f.
[5] Vgl. Ho Christina (2010): Responding to Orientalist Feminism. Women’s Rights and the War on Terror. In: Australian Feminist Studies 25 (66), S. 433–439.
[6] Vgl. Spivak Gayatri Chakravorty (1988): Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson & Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago. Siehe auch: Spivak Gayatri Chakravorty (2007): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien.
[7] Vgl. Klammer, Carina (2013): Imaginationen des Untergangs. Zur Konstruktion antimuslimischer Fremdbilder im Rahmen der Identitätspolitik der FPÖ, Berlin, S. 92.
[8] Vgl. Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel (2014): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg.
Hall, Stuart (1989): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Das Argument Nr. 178.
[9] Dietze, Gabriele (2014): Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik, S. 27.
[10] Vgl. Attia, Iman (2007): Kulturrassismus und Gesellschaftskritik, Münster. S. 11.
Veröffentlicht beim Gunda-Werner Institut: Zum Artikel