Ist der Gottesbezug in der Präambel des Deutschen Grundgesetztes noch zeitgemäß? Wenn die religiös weltanschauliche Neutralität und die Trennung von Staat und Kirche doch die Grundprinzipien darstellen, die das Verhältnis des modernen Verfassungsstaates zur Religion kennzeichnen,  stellt sich die Frage, wie ein Gottesbezug zu begründen ist.

Historisch ging es vor dem Hintergrund des totalitären, nationalsozialistischen Staates vor allem darum durch die Einführung der nomination dei die Begrenztheit staatlicher Souveränität zu betonen: Es gibt eine letzte, verbindliche Rechenschaftsinstanz, der der Mensch sich nicht entziehen kann und die dem Staat vorgeordnet ist. Nicht der Staat ist allmächtig, es gibt vielmehr überstaatliche Werte und Normen über die auch der Verfassungsgeber nicht verfügen kann. Als Absage an ein totalitäres Staatsmodell erinnert die Einfügung des „Präambel-Gottes“ den Menschen also daran, sich demütig seiner eigenen Fehlerhaftigkeit und Grenzen bewusst zu werden und sich seiner Verantwortung vor einer Macht zu vergegenwärtigen, die über allem steht. Es steckt darin die Warnung, die menschliche Macht immer in Relation zur Allmacht Gottes zu sehen. Seine Machposition soll den Menschen also nicht zu einer Hybris verleiten, die die unaufhebbare Dignität des Menschen verletzten könnte.

Im Koran wird Hochmut als die zentrale Eigenschaft Satans beschrieben, der Adam verachtet und danach trachtet, im Menschen „eitle Begierden zu erregen“.[1] Satan möchte, dass der Mensch ihm ähnlich wird, satanische Eigenschaften entwickelt und also durch menschenverachtende Hybris zu Fall kommt. Der Gläubige dagegen strebt die Vereinigung mit Gott an, indem er sich mit den Attributen Gottes färbt, der sich in fast jeder koranischen Sure als Allah, der Gnädige und Barmherzige vorstellt. Aus muslimischer Sicht liest sich der Gottesbezug der Verfassung wie eine Chiffre für diese im Koran angelegte Philosophie, die auch für nicht religiöse Menschen eine Botschaft hat:  Der Mensch darf nicht zulassen, dass er von einer menschenverachtende Hochmut regiert wird  – zentrales Ziel seines Handelns muss eine die Würde des Menschen achtende Empathie für seine Mitmenschen sein. Diese Menschenwürde wurzelt nicht nur im menschlichen Willen oder in der menschlichen Vernunft sondern gerade auch im Glauben an Gott als barmherzigen Schöpfer, der sich in seiner Schöpfung manifestiert. Es ist diese sinnstiftende und Zusammenhalt schaffende Kraft religiöser Tradition, die durch den Gottesbezug  anerkannt und geachtet wird.

Die Neu-Positionierung des säkularen Rechtsstaates

Nicht nur an der Diskussion um den Gottesbezug der Verfassung entbrennt sich die Frage, wie viel Religion eine pluralistische Gesellschaft überhaupt noch verträgt? Hat die liberale Gesellschaft nicht schon genügend Belastungen zu verkraften, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden? Millionen von Menschen befinden sich auf der Flucht, der Konkurrenzdruck durch die Globalisierung steigt, Unsicherheiten wachsen und mit ihnen Verlust- und Abstiegsängste. Schließlich ist es vor allem die Angst vor dem Islam, der in Zeiten allgegenwärtiger Terroranschläge von einem Großteil der deutschen Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen wird,[2] – eine Angst, die rechtspopulistischen Strömungen in ganz Europa Zulauf verschafft.

Spätestens die Terroranschläge vom 11.September 2001 haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet: Religion gilt Kritikern seitdem als Störfaktor im Integrationsprozess. Der „Andere“ wird nun nicht mehr entlang der fremden Nationalität, sondern anhand seiner Religionszugehörigkeit etikettiert und problematisiert. Es ist nicht mehr der „Türke“, der Opfer rassistisch motivierter Verbrechen wird, es ist nun der „Muslim“. Zugenommen hat seitdem auch der Ruf nach eine repressiven Religionspolitik. Religion, so heißt es, spalte die Gesellschaft und betone die Unterschiede. Religion gefährde das friedliche Zusammenleben in einer multi-religiösen Gesellschaft. Religiöse Symbole und Praktiken müssten aus dem öffentlichen Raum verbannt werden und zur reinen Privatsache erklärt werden – so die Vertreter eines streng laizistischen Staatsmodells, das eine strikte Trennung von Staat und Religion vorsieht.

Wir stehen also vor einer Richtungsentscheidung: Wie positioniert sich ein säkularer Rechtsstaat wenn die religiöse Praxis immer häufiger Gegenstand des öffentlichen Diskurses wird und nicht nur von rechts außen ein Verbot bestimmter religiöser Handlungen und Symbole gefordert wird? Diskutiert wurde in den letzten Jahren mit großem emotionalem Einsatz etwa ein Beschneidungsverbot, ein Minarettverbot, ein Gebetsverbot an Schulen, ein Kopftuchverbot und ein Burkaverbot. Es stellt sich damit die Frage, ob wir in einer liberal-pluralistischen Gesellschaft leben möchten, in der die Religionsgemeinschaften als essentielle moralstiftende Ressource wahrgenommen werden oder ob wir ein repressives Staatsmodell befürworten, das bestimmte laizistische oder „christlich-abendländische“ Werte verteidigt. In der Auseinandersetzung mit dem Islam wird also nicht nur neu verhandelt, wie tolerant wir mit gelebter Andersartigkeit umgehen wollen und wie liberal wir als Gesellschaft bleiben möchten. An der muslimischen Religion wird exemplarisch auch die Legitimität gelebter Religiosität in der Öffentlichkeit in einer zunehmend areligiösen Welt neu diskutiert.

Anti-religiöse Militanz

Die Kritik an der Sichtbarkeit gelebten Glaubens mündet manchmal sogar darin, dass Phänomene von antireligiöser Militanz eine neue Dimension erhalten. Es gibt auch den Fundamentalismus einer auf das Diesseits fixierten Weltsicht, die nichts gelten lässt, was außerhalb ihres eigenen beschränkten Blickfelds liegt, die ihre eigene begrenzte Sichtweise, den eigenen, heutigen Verstand absolut setzt. Nicht nur Religion, die zur Ideologie wird, sondern auch ein derartiger Vulgärrationalismus, der mitunter mit einer Aggressivität vertreten wird, die sonst als typisches Merkmal religiöser Fundamentalisten gilt, gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Versuche einer Zwangs-Säkularisierung der (Zivil-)Gesellschaft bedrohen unsere säkulare und freiheitliche Grundlage, statt sie zu verteidigen.

Wenn im Sinne eines laizistischen Modells verlangt wird, alle öffentlichen Institutionen von religiösen Bekundungen freizuhalten, muss entgegnet werden, dass die Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum gerade nicht dazu führt, das tolerante Miteinander zu lernen.  Schon gar nicht scheint es legitim, wenn durch gezielte Verbote versucht wird, einen einseitigen Laizismus für Muslime einzuführen, während es gleichzeitig ein Kooperationsmodell zwischen Staat und christlicher Kirche gibt. Vielversprechender erscheint es, das sogenannte ausgleichende Modell auf weitere Religionsgemeinschaften auszuweiten. Dies ermöglicht es dem Staat Raum zu bieten für alle religiösen Äußerungen, ohne eine Religion zu privilegieren oder zu diskriminieren. Die Neutralität des Staates drückt sich darin aus, dass sich die Vielfalt religiösen Lebens in staatlichen Institutionen wiederspiegelt.  Religiöses Leben autoritär ins Private zu verbannen und Freiheitsrechte von Minderheiten einzuschränken gehört eher zu den Kennzeichen autoritär-repressiver Regime.

Gerade in der Offenheit also bewahrt der Staat seine religiöse und weltanschauliche Neutralität und ermöglicht es, den Umgang mit religiöser Diversität von Anfang an einzuüben, wenn religiöse Vielfalt beispielsweise auch im Lehrerkollegium sichtbar wird. Nicht zuletzt die kopftuchtragende Lehrerin oder der turbantragende Sikh-Lehrer sind der glaubwürdige Ausdruck gelebter Diversität. Schließlich entspricht es dem staatlichen Erziehungsauftrag für „bekenntnisoffene“ Schulen, Toleranz gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln.

Wir verteidigen freiheitliche Werte folglich nicht, indem wir denjenigen ähnlich werden, die sie angreifen. Schon im Akt der vorgeblichen Verteidigung durch Restriktionen und Ausgrenzung droht eine innere Aushöhlung eben dieser Werte. Unser Umgang mit dem Islam ist daher auch ein Lackmustest für die offene Gesellschaft. Sollte unsere Antwort auf die Einschränkung der negativen Religionsfreiheit in autokratisch-fundamentalistischen Regimen tatsächlich darin bestehen, dass wir lediglich die Vorzeichen einer freiheitsfeindlichen Politik umkehren? Dass wir auf Verschleierungszwang mit Verschleierungsverbot reagieren? Dass wir religiösen Eiferern, die unsere Gesellschaft spalten möchten, mit ausgrenzenden Narrativen entgegen kommen? Tatsächlich ist es nicht die gelebte Religiosität, sondern eine restriktive Religionspolitik, die ausschließt und Spannungen den Weg bereitet. Statt einer Verbotskultur, die Misstrauen schürt und das Andere paternalistisch und machtpolitisch in enge Schranken weist, erscheint es daher wichtig, den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch eine Kultur der Anerkennung zu stärken. Vergessen wird häufig, dass gerade die Religionsgemeinschaften einen wertvollen Beitrag zu solch einer Kultur des gegenseitigen Respekts leisten können.

Religion als Ressource

Lebt der freiheitlich-säkulare Staat von normativen Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, wie es in dem berühmten Böckenförde-Diktum postuliert wird? Unabhängig von der Frage, ob der Staat auf die Ressource Religion zwingend angewiesen ist, kann doch festgestellt werden, dass Religion als Ressource genutzt werden sollte, da sie Potentiale freisetzt von denen der Staat profitiert. Jürgen Habermas betont, es liege „im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen den kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgen speist.“[3] Auch die Lehre des Islams gehört zu denjenigen Quellen, die einen funktionalen Beitrag für die Reproduktion solcher Einstellungen leisten kann, auf die der demokratische Verfassungsstaat letztlich angewiesen ist. Dazu gehört die Solidarität mit Anderen, auch mit Fremden, die Bereitschaft für allgemeine Interessen persönliche Opfer in Kauf zu nehmen sowie das eigene Handeln am Gemeinwohl auszurichten. Bereits am schwachen Beispiel der Wahlbeteiligung zeigt sich, dass wir ein Abbröckeln staatsbürgerlicher Solidarität beobachten können, die rechtlich nicht erzwungen werden kann, möchte der Staat ein freiheitlicher bleiben. Dass Religion eine Motivationsquelle sein kann, sich in diesem Zusammenhang solidarisch zu verhalten, beschreibt der muslimische Gelehrte Mirza Tahir Ahmad, der vierte Kalif der islamischen Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya Muslim Jamaat. Der demokratische Wahlvorgang, so Ahmad, müsse auf Rechtschaffenheit fußen: „Der Islam lehrt, dass der Gläubige sich bei der Ausübung des Wahlrechtes bewusst darüber sein sollte, dass Gott über ihn wacht und ihn für seine Entscheidung zur Verantwortung ziehen wird. (…) In dieser Lehre ist stillschweigend die Notwendigkeit enthalten, dass diejenigen, die das Recht zum Wählen haben, ihr Wahlrecht ausüben müssen“[4]. Das Beispiel zeigt, dass das Bewusstsein darüber, dass Allah sich im Koran mit den Attributen des „All-Sehenden“ vorstellt und den Gläubigen zur Rechenschaft ziehen wird, eine Sensibilisierung dafür schaffen kann, der eigenen gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Im Koran wird dabei als übergeordnetes Handlungsprinzip immer wieder die Gerechtigkeit betont. So heißt es, man solle etwa bei einer Wahl die „Treuhandschaft jenen übergeben, die ihrer würdig sind“ und es heißt weiter: „und wenn ihr zwischen Menschen richtet, dass ihr richtet nach Gerechtigkeit. Fürwahr, herrlich ist, wozu Allah euch ermahnt. Allah ist allhörend, allsehend“ (Sure 4:59).

Das Kontrollorgan der Spiritualität

Nicht nur für eine Wahl gilt also Gerechtigkeit als oberstes Prinzip, so der Koran, und zwar unabhängig von der Religion, der Herkunft oder des Geschlechtes: „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“ (Sure 49:14).

Ahmad leitet daraus auch die Notwendigkeit einer Trennung von Staat und Religion ab, denn Gerechtigkeit könne nur in einem säkularen Staat verwirklicht werden.[5] Diese Lesart des Koran wird gerade von extremistischen Bewegungen, die gegen Andersgläubige hetzen, nicht geteilt. Es stellt sich daher die Frage, wie mit solchen „Pathologien der Religion“[6] umzugehen ist. Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI der katholischen Kirche, merkt zu Recht an, dass das „göttliche Licht der Vernunft“ als „Kontrollorgan“ der Religion fungieren müsse. Im Koran heißt es dazu in aller Schärfe: „[Allah] sendet (Seinen) Zorn über jene, die ihre Vernunft nicht gebrauchen mögen.“ (Sure 10: 101). Die Vernunft ist also ein entscheidendes, von Gott zur Verfügung gestelltes Instrument, das angewendet werden muss.

Doch auch die Vernunft kennt Pathologien. Wird sie absolut gesetzt, kann sie in einem nihilistischen Utilitarismus gipfeln, der zutiefst menschenfeindlich ist. Letztlich, so Ratzinger, war auch die Atombombe ein Produkt der Vernunft. Eine technisch rationale Vernunft, die sich mit der Herrschaft verschwistert, gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt indem sie etwa egoistische Interessen Einzelner über moralische Prinzipien stellt. Max Horkheimer verwendet den Begriff der „instrumentellen Vernunft“, mit der letztlich auch der Holocaust organisiert wurde. Eine solche pathologisch gewordene Vernunft erhebt das Effizienzdenken zu einem übergeordneten Kriterium, das die totale Ausbeutung der Schöpfung, die Ausbeutung von Mensch und Tier in Kauf nimmt. Wenn wirtschaftliche und politische Interessen über moralisch-ethisches Handeln gestellt werden, wie es im Zeitalter eines um sich wütenden Neoliberalismus der Fall ist, wird deutlich, dass die Vernunft als alleiniges Kriterium nicht genügt. Die Ursache für eine Vielzahl kriegerischer Konflikte[7], für die krasse soziale und ökonomische Ungleichheit weltweit, liegt eben nicht am religiösen Bekenntnis der Menschen, sondern an der fehlenden Umsetzung einer religiösen Lehre, die in allen Weltreligionen Selbstlosigkeit und Solidarität mit Schwächeren predigt. Es ist vor allem der menschliche Egoismus, der Ungerechtigkeiten zulässt und systematisiert.

Für den Einzelnen kann es in seiner beschränkten, kurzfristigen Sicht auf die Welt durchaus rational erscheinen, selbstsüchtig zu handeln und vor allem nach dem eigenen Vorteil zu schielen. Auch die Vernunft benötigt also ein Kontrollorgan. Für Ratzinger ist das der Glaube, er spricht von der Notwendigkeit einer Korrelationalität von Vernunft und Religion. Der Koran nennt neben der Vernunft als weiteren Entwicklungsschritt die Spiritualität in der Form einer Beziehung zu einem lebendigen Schöpfer als Weg für emphatisches und solidarisches Handeln. Er beschreibt drei Zustände des Menschen: Im primitiven Zustand folgt der Mensch seinen Neigungen und Trieben und handelt primär egoistisch. Im moralischen Zustand steuert er sein Handeln mit der Vernunft und tadelt sich selbst bei ungerechtem und triebgesteuertem Handeln. Erst im Zustand der „beruhigten Seele“, einem geistig-spirituellen Zustand durch die Vereinigung mit Gott ist er befreit von egoistischen Motiven und handelt völlig selbstlos.[8] Für Gläubige, die ihr Handeln nach einer derartigen Philosophie ausrichten und unter „Dschihad“ das Streben des Menschen auf dem Weg zu Gott und den Kampf gegen innere Egoismen verstehen, gilt das islamische Grundprinzip: Dem Schöpfer kann nur dienen, wer seiner Schöpfung dient.

Der religiöse Schutzwall gegen einen um sich wütenden Neoliberalismus

Der Koran spricht von den Rechten Allahs und den Rechten der Mitmenschen, die ein Gläubiger zu erfüllen hat. Besonders betont werden die Rechte der Eltern, der Verwandten, der Waisen, der Bedürftigen sowie der Nachbarn und Andersgläubigen. Jemand, der seinen Mitmenschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung, Religion und Herkunft nicht Gutes tut, kann das Wohlgefallen und die Nähe Allahs nicht erlangen. So heißt es etwa: „Allah gebietet Gerechtigkeit und uneigennützig Gutes zu tun und zu spenden wie den Verwandten“ (Sure 16:91). Ganz allgemein heißt es zudem in einer Überlieferung des Propheten über die Loyalität zum Staat, in dem man lebt: „Die Liebe zum eigenen Land ist ein Teil des Glaubens“. Der gesellschaftliche Einsatz für den Fortschritt des Landes und die Befolgung der Gesetze des Landes, in dem man lebt, sind also religiöse Pflichten.[9]

Religiöse Werte, wie sie hier beschrieben werden, stellen für Gläubige eine zusätzliche Motivation dar, sich für das Gemeinwohl einzusetzen und sich auch in schwierigen Lebensumständen solidarisch mit Schwächeren zu zeigen. Dies hat beispielsweise Auswirkungen auf den fürsorglichen Umgang mit Familienangehörigen. Intakte und liebevolle Familienstrukturen stellen eine wesentliche Grundlage für die physische und mentale Gesundheit einer Gesellschaft dar. Wenn jedoch neoliberalistische Prinzipien Familien immer stärker unter Druck setzen, sich zunehmend an die Bedingungen des Arbeitsmarktes anzupassen  und „unproduktive“ Gruppen wie Alte und Kleinkinder auszulagern, werden soziale Beziehungen wirtschaftlichen Interessen untergeordnet . Eine religiöse Grundhaltung, die in der Fürsorge für die Eltern etwa ein zentrales Gebot Gottes erkennt, entwickelt ein Bewusstsein dafür, dass das Familienleben vor den Begehrlichkeiten einer auf Effizienz getrimmten, durchökonomisierten Gesellschaft zu schützen ist, auch wenn dies mit persönlichem Verzicht und Selbstrücknahme verbunden ist.

Der religiös orientierte Mensch kann sich möglicherweise auch deswegen stärker zurücknehmen, weil der Tod für ihn nicht der Schlusspunkt des Lebens ist. Er muss nicht das Äußerste an körperlichem Genuss aus diesem Leben pressen, er muss nicht um den besten Platz an der Sonne kämpfen, denn er kennt etwas Besseres im Inneren, das er schon in diesem Leben erfährt. Der Koran betont, dass das himmlische oder höllische Leben bereits hier auf Erden seinen Anfang nimmt und sich im Zustand des Geistes eines Menschen manifestiert.[10] Dies bedeutet also, dass ein Muslim sich nicht auf das Jenseits vertrösten lässt und mit widrigen Umständen im Diesseits zufrieden gibt. Es bedeutet vielmehr, dass er frei davon wird, in einer panischen Ichsucht das Maximale für den eigenen, sterblichen Körper herauszuholen. Dass er Glück und Zufriedenheit in einer spirituellen Praxis sucht, von der es im Koran heißt: „Sie die glauben und deren Herzen Trost finden im Gedenken Allahs. Ja! Nur im Gedanken Allahs ist es, dass Herzen Trost finden können“ (Sure 13: 29).

Denn was geschieht, wenn der Mensch sich nicht mehr als Wesen mit spiritueller Dimension und metaphysischer Tiefe begreift?  Wenn der transzendente Bezugspunkt fehlt? Was passiert, wenn das Vollkommenheitsideal einer Kultur sich nicht mehr auf den Geist bezieht? Wenn der Geist nicht mehr für unsterblich gehalten wird? Es kommt zu einer völligen Fixierung auf das, was offensichtlich ist: den isolierten Körper. Wegbereiter für eine solche Degenerierung ist der Kult um die Inszenierung des Körpers sowie um körperliche/sexuelle Genüsse jeglicher Art, auch wenn sie zu Lasten nicht nur der eigenen physischen und mentalen Gesundheit gehen, sondern auch die Notlage gesellschaftlich Schwächerer ausnutzt und sie ausbeutet. Weitverbreitet sind zudem Verstrickungen in Rauschzustände, die lediglich über den Körper erfahren werden, ohne ein Bewusstsein für Genüsse des Geistes in einer lebendigen Spiritualität mit Gott.

Gerade weil Religion eine Ressource darstellt, die solchen Auswüchsen eines absolut gesetzten Egoismus entgegentritt, verdient sie es, in besonderem Maße geschützt zu werden. Wenn dagegen die Negierung eines Schöpfers zur gesellschaftlichen Isolation gläubiger Menschen führt, bedeutet das keineswegs automatisch einen Zugewinn an zwischenmenschlicher Solidarität und gesellschaftlichem Frieden. Im Gegenteil: Die Leugnung des einen Gottes kann mitunter zu einer Erweckung einer Myriade von Göttern führen. Selbstsucht, die Orientierung an Zielen, die nur dem eigenen Vorteil gereichen sowie die Anbetung des Gottes Mammon sind nur einige solcher selbst fabrizierter Götter, die dem Gemeinwohl und dem sozialen Frieden alles andere als dienlich sind.

Funktion der Problematisierung des Islams

Was ist nun der Grund dafür, dass gerade die Religion des Islams im öffentlichen Diskurs so selten als Ressource diskutiert wird, sondern vielmehr als Störfaktor problematisiert wird? Und welche Funktion hat eine solche Reduktion der muslimischen Religion, bei der die defizitäre Sicht auf Muslime dominiert?

Sicherlich ist es vor allem dem islamistischen Terror geschuldet, dass ein negatives Bild über den Islam weitverbreitet ist. Auch wenn es in diesem Zusammenhang unverzichtbar erscheint auf die Notwendigkeit einer innerislamischen Aufklärung hinzuweisen, die theologisch fundierte Antworten auf die scheinbar religiös begründete Ideologie fanatisierter Gruppen vorträgt, so wäre es doch vereinfacht, die Bedeutung macht- und geopolitisch motivierter westlicher Interventionen bei der Entstehung von Terrorpotentialen zu bagatellisieren.

Wenn globale Krisen oder nationale Herausforderungen auf ein religiöses Problem reduziert werden, kommt es zu einer Entpolitisierung gesellschaftlicher und sozio-ökonomischer Missstände. Mögliche außen- oder integrationspolitische Versäumnisse und Fehler können dann aus dem eigenen Verantwortungsbereich ausgelagert werden. Es besteht kein Bedarf mehr, etwas an den politischen Umständen zu verändern, wenn die Religion als Hauptursache der Konflikte benannt wird.

Werden Probleme kulturalisiert oder muslimifiziert führt das also nicht nur zu einer Ausgrenzung und Frustration der muslimischen Minderheit, vielmehr finden realpolitisch sinnvolle Lösungsansätze dann auch weniger Gehör, weil einfache populistische Antworten, die vor einen zunehmenden islamischen Einfluss warnen, die Diskussion dominieren, indem sie mit Ängsten spielen. Mögliche strukturelle Probleme, die im Zusammenhang mit Migrationsverhältnissen stehen und von denen als Muslime markierte Personen besonders häufig betroffen sind, werden dann nicht angegangen. „Struktur statt Kultur!“ muss also ein Leitgedanke sein, möchte man integrationspolitisch vorankommen.

Bleibt man jedoch dabei in einer vermeintlich rückständigen islamischen Religion die Hauptursache für Konflikte zu sehen, hat eine solche Kulturalisierung auch eine psychologische Entlastungsfunktion für die Dominanzgesellschaft. Wenn „der Muslim“ aufgrund seiner Religion selbst schuld an seiner Situation ist, können eigene Privilegien durch diese Konstruktion legitimiert werden:  Die pauschale Abwertung des Fremden erlaubt es, die eigene Gruppe für höherwertig zu erklären. Durch die Aufrechterhaltung von Scheinkausalitäten kommt es also gerade angesichts globaler Krisen zu einer Entsolidarisierung mit gesellschaftlich Schwächeren.

Wenn ein Großteil der Ostdeutschen nun die Religionsfreiheit für Muslime erheblich einschränken will[11], wird hier auch das anti-demokratische Potenzial nicht-religiöser Menschen sichtbar, dass Anlass dafür sein könnte, von der herkunftsdeutschen Gesellschaft ein Bekenntnis zu demokratischen Werte abzuverlangen, so wie es von Muslimen oft verlangt, wiewohl Studien zeigen, dass 90 Prozent auch der hochreligiösen Muslime die Demokratie für eine gute Regierungsform halten.[12] Schließlich werden die Normen unserer Demokratie letztlich auch dadurch gebrochen, dass in Deutschland fast täglich Flüchtlingsunterkünfte angegriffen werden. Wenn sich dagegen jeder zweite Muslim in Deutschland in der Flüchtlingshilfe engagiert, zeigt sich hier das positive Potential einer religiösen Identität.

Es wird in Zukunft wichtig sein, der autochthonen Mehrheitsbevölkerung zu vermitteln, dass die religionspolitische Ordnung in unserem Land sich angesichts der Pluralisierung der religiösen Landschaft verändert hat und der Islam ein selbstverständlicher Teil Deutschlands ist. Dass Muslime keine Sonderrechte einfordern, wenn über islamischen Religionsunterricht oder islamischer Theologie an Universitäten verhandelt wird. Und dass die Neutralität des Staates vorrangig die Funktion hat, vor Diskriminierung zu schützen und nicht selbst zu diskriminieren, indem die Religionsfreiheit für Minderheiten beschränkt wird. Und es wird die Aufgabe der Muslime sein, durch ihr Verhalten und ihren Einsatz stärker herauszustellen, welche Ressource auch die islamische Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen kann. Ein Auszug aus der berühmten Abschiedspredigt des Propheten Muhammad erinnert daran:

„Haltet euch stets vor Augen, dass ihr eurem Herrn begegnen werdet und dass Er gewiss eure Taten berechnen wird (….) Behandelt eure Frauen gut und seid liebenswürdig zu ihnen, denn sie sind eure Partner (….) Ein Araber hat weder einen Vorrang vor einem Nicht-Araber, noch hat ein Nicht-Araber einen Vorrang vor einem Araber; Weiß hat keinen Vorrang vor Schwarz, noch hat Schwarz irgendeinen Vorrang vor Weiß; [niemand ist einem anderen überlegen] außer in der Gottesfurcht und in guter Tat (…) Bedenkt, eines Tages werdet ihr vor Gott erscheinen und nach euren Taten befragt werden.  Also hütet euch, verlasst den Weg der Rechtschaffenheit nicht, wenn ich von euch gegangen bin.“

 

[1]  Koran, Sure 7, Vers 13 und Sure 4, Vers 120ff. Verwendete Koranausgabe: Ahmad, Mirza Masroor (Hrsg.): Koran. Der Heiligen Qur-an. Verlag der Islam. 2012.

[2] Hafez, Kai/ Schmidt, Sabrina: Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Bertelsmann Stiftung, 2015.

[3] Habermas, Jürgen/ Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Herder, 2011, Seite 33.

[4] Ahmad, Mirza Tahir: Islam’s Response to Contemporary Issues. Islam International, 2007, S. 230. Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen durch die Autorin.

[5] Ahmad, Mirza Tahir: Zum Verhältnis von Scharia und Staat im Islam. Verlag Der Islam, 2011.

[6] Habermas/Ratzinger, S. 56.

[7] Im Jahre 2004 veröffentlichten Charles Phillips und Alan Axelrod eine Zusammenstellung aller Kriege im Laufe der Menschheitsgeschichte in der „Encyclopedia of War”. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass von etwa 1763 dokumentierten Kriegen lediglich 123 als religiöse Konflikte eingestuft werden konnten.

[8] Vlg. Ahmad, Hazrat Mirza Ghulam Ahmad: Die Philosophie der Lehren des Islam.  Verlag Der Islam, 5. Auflage, 2012.

[9] Ahmad, Mirza Masroor: Liebe und Loyalität zum Heimatland. Der islamische Standpunkt. Verlag Der Islam, 2012.

[10] Vgl. Ahmad, Philosophie der Lehren des Islam, sowie Kapitel 2.

[11] Decker, Oliver u.a.: Die Mitte in der Krise : rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Friedrich-Ebert Stiftung, Berlin, 2010.

[12] Hafez/ Schmidt: Religionsmonitor, 2015.