In Zeiten, in denen man bei Terroranschlägen reflexartig an Islamisten denkt und eher verwundert ist, wenn sich herausstellt, dass ein norwegischer Muslimhasser dahintersteckt, kann es wohltuend sein zu lesen, wie mit Nüchternheit und historischem Weitblick, eine Einordnung der häufigsten Kritikpunkte am Islam vorgenommen wird.

Denn auch wenn die „Arabellion“ die Islamdebatte neu beflügelt hat und es sich erahnen lässt, dass weniger der Islam als vielmehr repressive Regime den Weg in die Freiheit behindern, bleibt das Unbehagen: Demokratie, Toleranz und Freiheit verbindet man noch lange nicht mit der Religion des Islam, dessen Reformfähigkeit zur Debatte steht.

Doch die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer zeigt, dass es eher am Reformwille der gesellschaftlichen und politischen Eliten in den sogenannten islamischen Ländern mangelt, als der Unmöglichkeit in Vereinbarkeit mit der islamischen Lehre freiheitliche Werte zu etablieren. „Demokratie im Islam“, heißt ihr jüngst erschienenes Buch, das einen Überblick über den „Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt“ geben möchte, so der Untertitel.

Nicht allein der Aufhänger lässt vermuten, dass hier versucht wird auf der Welle des arabischen Frühlings zu schwimmen. Auch inhaltlich gibt das Buch mehr einen groben  Überblick, als in die Tiefe zu gehen, reißt umfassende Themenkomplexe wie die  Frauenfrage im Islam an, um wenige Absätze später ein Fazit zu ziehen und verpasst dabei noch nicht einmal, Hauptargumenten bekannter Islamkritiker quasi en passant jegliche Berechtigung abzusprechen.

Doch gerade das macht auch die Stärke des Buches aus. Es skizziert präzise und auf den Punkt gebracht den innerislamischen Diskurs, ohne mit Einzelheiten zu überfrachten und beschäftigt sich dabei dennoch mit allen relevanten und auch heiklen Fragen der Islamkritik: Von der Vereinbarkeit des Islam und der Scharia mit der Demokratie und den Menschenrechten bis zur Gleichberechtigung von Muslimen und Nichtmuslimen, sowie Männern und Frauen im Islam, werden alle wichtigen Grundsatzfragen mit einer professionellen Distanz behandelt: Wertfrei  und weder schönfärbend noch dämonisierend, ohne den „Goldenen“ oder „Schwarzen Mythen“ anheimzufallen,  denn so Krämer, „die Grautöne“ überwiegen.

Und so wundert es nicht, dass Krämers Darstellung nicht zur Polarisierung taugt. Es wird deutlich, dass die Auslegung des Korans den Dreh- und Angelpunkt für einen möglichen Fortschritt bildet. Denn auch Krämer lässt keinen Zweifel daran, dass es ohne den Koran nicht geht: Kaum bei einem Punkt herrscht im innerislamischen Diskurs so viel Einigkeit, wie in der Lehrmeinung, dass der Koran als göttliche Offenbarung unantastbar ist.

Wenn zeitgenössischen Muslimen mit dem Verweis auf bestimmte Koranverse jedoch die Integrationsfähigkeit abgesprochen wird, dann wird laut Krämer die Spannbreite an Möglichkeiten, den Koran zu interpretieren übersehen. Doch wird schnell deutlich, dass derzeit eine kasuistische, ahistorische und buchstabengläubige Auslegung  dominiert und Reformer mit abschreckenden Strafen und Verfolgung zu rechnen haben. Dem unfreien Geist des zeitgenössischen, islamischen Diskurses setzt Krämer nicht nur Beispiele aus der Geschichte entgegen, wobei sie abschließend resümiert, dass der Islam in der historischen Bilanz hinsichtlich eines gelebten Pluralismus und angewandter Toleranz durchaus besser da steht als Europa. Denn eine systematische Verfolgung Andersdenkender und religiöser Minderheiten, die in Europa auch nach der Aufklärung stattfand,  gab es im Islam nicht.

Doch täuscht dies nicht darüber hinweg, dass in einer Reihe sogenannter islamischer  Staaten heute keine bürgerliche Gleichheit für Minderheiten und Frauen existiert und sogar sich selbst als Muslime bezeichnende Minderheiten, die eine andere Auslegung des Islam bevorzugen, verfolgt werden. Die Scharia müsste „grundsätzlich neu interpretiert werden“, konstatiert Krämer und legt dar, welche unterschiedlichen Ansätze der Koranexegese sich bereits herauskristallisieren.

Krämer zitiert einen Vers aus der fünften Sure des Koran, der als Inspiration für den Richterspruch der Lessing’schen Ringparabel, dem Schlüsseltext der aufklärerischen Toleranzidee, gedient haben mag:  „Und hätte Allah gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben. Wetteifert darum miteinander in guten Werken. Zu Allah ist euer aller Heimkehr; dann wird Er euch aufklären über das, worüber ihr uneinig wart.“  Hier erscheint Pluralität als gottgewollt und bietet damit eine solide Grundlage für duldende, aber auch anerkennende Toleranz.

Extremisten wie Osama bin Ladin mögen dies freilich anders sehen, jedoch gibt Krämer zu bedenken, sind sie ebenso wenig wie der selbsternannte christliche Kreuzritter von Norwegen, keine qualifizierten Rechtsgelehrte ihrer Religion, noch sonderlich konsequent. Allen inneren Widersprüchen zum Trotz haben sie allerdings Erfolg: In der arabischen Welt dominieren Krämer zufolge Islamisten das Geschehen. Als besonders ungünstig erweist sich dabei das Fehlen einer religiösen Autorität innerhalb des Islam.

Denn entscheidend ist die Frage, was überhaupt unter der Scharia verstanden wird. Es handelt sich bei der Scharia ja eben nicht um einen abgeschlossenen Rechtskodex, sondern um eine Methode der Rechtsfindung, die sich historisch entwickelt hat und grundsätzlich ergebnisoffen ist. Letztendlich schreibt der Koran keine bestimmte Staatsform vor und lässt damit viel Spielraum, auch wenn Islamisten das Gegenteil suggerieren. Als Leitlinien werden lediglich bestimmte Grundprinzipien artikuliert, die eine gute Regierungsführung ausmachen sollten. Krämer betont: Auch im Islam müssen Religion und Politik keineswegs miteinander verwoben sein. Schon immer gab es innerhalb des Islam Kritiker und Reformer, die begründet postulierten, dass es eine Trennung von Religion und Staat geben müsse und der Prophet Muhammad eine rein religiöse Mission verfolgte. Dass solche Stimmen nicht gerne gehört und sogar gezielt ausgeschaltet werden, verwundert nicht, wenn man bedenkt, wie sehr der Islam aus machtpolitischen Interessen heraus instrumentalisiert wird. Krämer referiert in diesem Zusammenhang selbstkritische Positionen innerhalb des Islam, die auch außerhalb sufischer Bewegungen, den Mangel an Spiritualität, die „Verengung auf den Gesetzesislam“ und die „geistlose Obsession mit Äußerlichkeiten“ anprangern.

Als Paradebeispiel für eine solche Haltung skizziert Krämer den Umgang  sogenannter islamischer Staaten mit Religionswechslern. Auch wenn die meisten Staaten die UN-Menschenrechtserklärung unterzeichnet haben, ist ein freier Religionswechsel für Muslime schwierig. Für den „Abfall“ vom Glauben, der sogenannten Apostasie, haben muslimische Rechtsgelehrte eine Strafe festgelegt, obwohl der Koran keine irdische Strafe formuliert. Hier manifestierten sich vielmehr  zeitgenössische Interessen, so Krämer.

Krämers Darstellung über die Entwicklungen in der arabischen Welt arbeitet heraus, wie schwierig es geworden ist zu trennen, zwischen dem, was muslimisch ist, also in der Praxis von Muslimen gelebt wird und dem was islamisch ist, das heißt der islamischen Lehre entspricht. Nicht zuletzt tragen Muslime selbst Mitschuld an dieser Verwässerung, da sie dazu neigen, gesellschaftliche und soziokulturelle  Phänomene, von abergläubischen Traditionen bis hin zum Patriarchat, mit dem Islam zu etikettieren, um ihre Position zu stärken.  Damit erweisen sie dem Islam freilich einen Bärendienst, denn er wird nicht zuletzt im Westen ausgemacht als Ursache für die unterschiedlichsten Ausartungen.

Der Islamwissenschaftlerin Krämer gelingt es differenziert darzulegen, wie vielschichtig der Islam verstanden werden kann und welche Entwicklungen angesichts der Historie weiterhin möglich sind. Sie fällt trotz der präzisen Benennung von Problemen keine absoluten Urteile, lässt Deutungsspielraum für einen optimistischen Blick in die Zukunft, verklärt jedoch auch nicht, dass es dringenden Bedarf gibt, sensible Fragen jenseits elitärer Kreise breitgefächert und aufgeschlossen zu diskutieren. Vertreter aufgeklärter Ansichten sind in der Minderheit. Die Umbrüche in der arabischen Welt sind mit der Hoffnungen verknüpft, diese Stimmen lauter zu hören, denn, so Krämer, „verdienen sie, wenn die stete Aufforderung zum Dialog mit „dem Islam“ beziehungsweise „der arabischen Welt“ ernstgemeint sein soll, die Aufmerksamkeit, die den Vertretern radikaler Positionen  (…) in so reichlichem Maß zuteil geworden ist.“ Denn das haben islamistische Hetzer mit antiislamistischen gemeinsam: Ihr krudes Weltbild gelangt unters Volk;  dem fundierten Überblick Krämers wäre dies zu wünschen.

Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. Verlag C.H. Beck, München, 2011.