Mit ihrer Präsentation einer Studie zur Zwangsverheiratung hat Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) muslimischen Frauen einen Bärendienst erwiesen. Während Schröder betont, dass die Forschung vor „zu kurzen und zu einfachen Kausalketten“ warne, konstruiert sie genau solche.

Nur wenige Tage sind seit Veröffentlichung der Studie vergangen, doch auch der indifferente Bürger dürfte aufgeschnappt haben, dass die „Schock-Studie“ (BILD) entlarve, wie tausende Frauen in Deutschland zwangsverheiratet werden, „und fast immer sind es junge Musliminnen“, so der Tenor. Auch seriöse Zeitungen kommen nicht umher zu betonen, dass muslimische Frauen fast 84% der Betroffenen ausmachen. Und so scheint amtlich bestätigt zu sein, was ohnehin Volksmeinung ist: Muslimische Frauen sind Opfer. Der Spiegel visualisiert die Meldung mit einer kopftuchtragenden Frau und formuliert in der Unterzeile: „Frau mit Kopftuch: Die meisten Zwangsehen-Opfer stammen aus muslimischen Familien.“

Wo es auf der einen Seite notwendig ist, gegen eine Menschenrechtsverletzungen durch  Zwangsehen vorzugehen und die Hintergründe zu analysieren, hat die Darstellungsweise der an sich wichtigen Studie zu einer verstärkten Marginalisierung und Stigmatisierung muslimischer Frauen beigetragen. Musliminnen in Deutschland sind es gewöhnt, als unterdrückt wahrgenommen zu werden, schließlich antworten laut einer repräsentativen Studie der Universität Münster von 2010 über 80 Prozent der befragten Deutschen, sie konnotierten die Unterdrückung der Frau mit dem Islam.

Der Einfluss der öffentlichen Meinung

Die Forscher der von Bundesfamilienministerin Schröder präsentierten Studie gehen von einem Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Untersuchungsergebnisse aus: Es wird betont, dass die Kenntnis über Merkmale wie die Religionszugehörigkeit und die entsprechende Zuordnung „auch davon beeinflusst ist, wie in der öffentlichen Debatte auf bestimmte Communitys geblickt wird.“ Denn die Betroffenen selbst gaben zu keiner Zeit Auskunft über ihre Religionszugehörigkeit, vielmehr nahmen lediglich Mitarbeiter der befragten Beratungsstellen Einschätzungen über die Religion ihrer Klienten vor. Bei ähnlichen Untersuchungen in Großbritannien wurden Zwangsehen unter indisch-pakistanischen Migranten seitens der befragten Organisationen stärker wahrgenommen, obwohl diese auch unter anderen Ethnien verbreitet sind.

Ohne Zweifel werden muslimische Frauen in einigen sogenannten islamischen Ländern bevormundet und unterdrückt. Ihnen werden essentielle Menschenrechte nicht zugestanden, Fortschritte sind oft das Ergebnis hartnäckiger Bemühungen seitens Frauenorganisationen. Doch wir müssen diese Lesart des Islam nicht nach Deutschland importieren. Die Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren Frauen und Jugend (BMFSFJ) zur Zwangsverheiratung zeigt, dass 32 Prozent der Betroffenen in Deutschland geboren und sozialisiert sind. Die mittlerweile zweite und dritte Generation der Muslime in Deutschland distanziert sich jedoch gleichzeitig immer öfter von patriarchalen Traditionen, die sie als unislamisch begreift, wie eine Studie von 2004 belegt, die ebenfalls das BMFSFJ in Auftrag gab. Wenn aber immer wieder eine Verbindung zwischen Frauenunterdrückung und Islam hergestellt wird, fühlt sich diese Generation mit ihrer Haltung ins Abseits gedrängt. Reaktionären Kräften innerhalb des Islam wird dagegen der Rücken gestärkt. In Gang kommt ein Prozess, der in der Medienforschung als Schweigespirale beschrieben wird: Menschen mit Positionen, die zwar von der Mehrheit vertreten werden, aber in den Medien nicht artikuliert werden, werden schweigsamer, weil sie sich in der Minderheit wähnen. Muslime, die die Ansicht vertreten, Frauenrechte und Islam stünden nicht im Widerspruch zueinander, drohen sich mit ihrer Position zu isolieren. Die Redebereitschaft derjenigen, die ihre Position durch die Medien gestärkt sehen und der Meinung sind, im Islam habe die Frau eine minderwertige Stellung, wächst und damit langfristig auch die Anhängerschaft dieser Meinung. Es kommt zu einer Spirale, die ein mögliches ursprünglich frauenfreundlicheres, innerislamisches Meinungsklima in Deutschland umwälzen könnte. Das berühmte Thomas Theorem besagt, dass Situationen, die als wirklich definiert werden auch wenn sie objektiv gesehen anders sind, reale Konsequenzen haben. Man müsste also betonen, dass Zwangsehen unislamisch sind, wenn man meint, über den Bezug zur Religion etwas erreichen zu müssen.

Irrelevante Merkmale als Irrlichter

Bisher schweigen Muslime nicht:  Viele muslimische Verbände und Frauengruppen haben nach Bekanntwerden der Studie Zwangsverheiratungen wiederholt als nicht mit dem Islam zu legitimierendes Verbrechen verurteilt. Doch es stellt sich die Frage, warum sie dies tun mussten? Als das BMFSFJ 2004 eine Studie über Gewalt an Frauen in Deutschland vorstellte und bekannt wurde, dass 37 Prozent aller befragten Frauen schon einmal körperliche Gewalt erlebt haben, wurde nicht danach gefragt, ob die betroffenen Frauen christlich seien.

Wenn es um den Schutz der von Gewalt und Zwang bedrohten Frauen geht, dann gilt es, Strukturen zu analysieren, die Menschenrechtsverletzungen begünstigen. Eine unterdurchschnittliche Bildung und ländliche Herkunftsregionen der Betroffenen werden in der Studie diskutiert. Das Herausfinden solcher Strukturen wird jedoch verhindert, wenn irrelevante Merkmale in den Vordergrund gerückt werden und ihr Irrlicht verbreiten. In der Studie heißt es, man könne und wolle mit der gewählten Methode nicht überprüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Zwangsehen gebe. Die hochselektive Datengrundlage lässt die Beantwortung dieser Frage ohnehin nicht zu, denn es wurden nur Beratungseinrichtungen befragt, wobei man von Mehrfachzählungen ausgeht, da Betroffenen häufig mehrere Beratungsstellen aufsuchen. Die Religionszugehörigkeit wird als „leere Variable“ bezeichnet, die ohne Kenntnis darüber, welchen Stellenwert die Religion für die Betroffenen hat, keinen Aussagewert besitzt.

Innerislamische Aufklärung

Dennoch kritisiert Schröder in ihrem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass ein „Zusammenhang in Hinblick auf den Islam oft verleugnet oder wegdefiniert“ werde und fordert Imame auf, „es noch stärker als ihre Aufgabe zu begreifen, Zwangsverheiratung zu verweigern und dagegen einzuschreiten“. Dagegen ist nichts einzuwenden, innerislamische Aufklärung ist wichtig und dringend notwendig. Es scheint daher begrüßenswert, dass Schröder den Schulterschluss zu muslimischen Gemeinden sucht. Doch suggeriert sie damit nicht genau die Kausalzusammenhänge, vor denen sie anfänglich warnt?

Haben muslimische Geistliche tatsächlich einen Einfluss auf Menschen, die andere zwangsverheiraten? Ist für solche Täter der Glaube ein Maßstab? Stellen Imame eine Autoritätsperson für sie da? Praktizieren sie ihre Religion? Oder handelt es sich um Kulturmuslime, um Menschen, die nominell muslimischen Glaubens sind und denen es ebenso gleichgültig oder unbekannt ist, was ihre Religion lehrt, wie den Hindus und Christen, die Menschen zwangsverheiraten und die es gemäß der Studie auch gibt? Vermutlich ist ihnen die Religion so gleichgültig, wie den Mitgliedern christlicher Herrschaftshäuser im 18. Jahrhundert, die aus Gründen der Staatsräson zur Ehe zwangen.

Es müsste unter Muslimen eine starke Kultur der Ächtung und Verurteilung solcher menschenverachtenden Handlungen geben. Dies könnte sich womöglich auch positiv auf potentielle Täter auswirken, die nicht gelernt haben, das Selbstbestimmungsrecht Anderer zu akzeptieren. Islamische Allgemeinplätze können daher nicht häufig genug betont werden. Es gibt mehrere bekannte Überlieferungen des Propheten Muhammadsaw, die besagen, dass Zwangsehen ungültig und nicht islamisch sind. In der Praxis verlangen viele islamische Gemeinden als Voraussetzung für die religiöse Trauung  nicht nur eine standesamtliche Eheschließung, sondern auch das schriftliche Einverständnis beider Heiratswillige. Der Koran spricht von „Liebe und Zärtlichkeit“ als Grundlage einer Ehe (Sure 30: 22). Insofern kann der Islam, wie Schröder es fordert, „Teil einer Lösung sein“. Deutlich wird, dass nicht die islamische Lehre hierbei das Problem ist, sondern die Muslime, die hinsichtlich dieser Frage nicht nach dem Islam leben.

Die Kollateralschäden

Schröder plädiert nun dafür, Zwangsverheiratungen in den Schulen stärker zu thematisieren. Sicherlich muss alles dafür getan werden, Betroffenen frühzeitig Hilfe zu ermöglichen. Doch ist zu befürchten, dass diese Maßnahme Kollateralschäden nach sich ziehen wird. Die vorgestellte Studie ist nicht repräsentativ, die Zahlen nicht belastbar. Die große Mehrheit der in Deutschland lebenden muslimischen Frauen wird sicherlich nicht unterdrückt. Gespräche mit muslimischen Schülerinnen zeigen, dass es immer wieder vorkommt, dass auch selbstbewusste Musliminnen von besorgten Lehrern beiseite genommen und gefragt werden, ob sie zuhause unter Zwang zu leiden hätten. Auch wenn das besser sein mag, als ein nicht entdeckter Fall von Zwangsheirat, so gibt es doch Lehrer, die nicht davor zurückschrecken, ihren Schülerinnen das Kopftuchtragen zu verbieten und damit geltendes Recht ignorieren. Der Drang, diese Mädchen vor Fremdbestimmung und Zwang retten zu müssen, scheint so übermächtig, dass das Angestrebte mit denselben Mitteln zu realisieren versucht wird, gegen die man zu kämpfen meint. Der in jeglicher Hinsicht extreme Fall des Mädchens, das mit einem Ganzkörperbadeanzug zum Schwimmunterricht einer hessischen Schule erschien, und dann vor versammelter Klasse trotzt ihres heftigen Widerspruchs vom Lehrer genötigt wurde, ihre Hose sofort auszuziehen, zeichnet eine groteske Metapher der Doppelmoral manch selbsternannter Frauenbefreier. Es mögen Einzelfälle sein, eine Studie dazu wäre wünschenswert. Solche Fälle zeigen aber doch, welche Ausmaße mitunter die salonfähige Unterstellung angenommen hat, muslimische Frauen seien per se unterdrückt. Für ihre Islamophobie bekannte Hetzseiten im Internet stürzen sich auf die Studie, die sie als Bestätigung ihrer rassistischen Thesen feiern.  Frau Schröder hat mit ihrer Darstellung der Ergebnisse möglicherweise in die falschen Hände gespielt.