Wie die Motive der Kopftuchträgerinnen immer wieder ignoriert wurden – und wie eine Studie nach der anderen das gleiche Schicksal teilte.

Wir erleben dieses Jahr einen traurigen Höhepunkt der Kopftuchdebatte. Einen Höhepunkt, der traurig ist, weil er gar nicht als Höhepunkt erkannt wird, denn sonst wäre er eher ein Wendepunkt und eine Genugtuung für all diejenigen, die nur ihren Kopf geschüttelt haben, wenn die Gegner des Kopftuches sich wieder mal die Köpfe heiß diskutierten. Ein Höhepunkt der keiner ist, weil er einfach zu spät kommt, viel zu spät für die schnelllebige Medienkratie.

Jetzt nach über zehn Jahren Kopftuchdebatte – ja, es ist in der Tat schon mehr als zehn Jahre her, dass eine Lehrerin 1998 klagte, um mit dem Kopftuch unterrichten zu dürfen – jetzt interessiert es einfach niemanden mehr so wirklich, dass es endlich eine repräsentative Studie gibt, die der Debatte ihre Grundlage nimmt. Und noch viel schlimmer, dass diese Studie den Gesetzen, die seitdem erlassen wurden, jegliche Berechtigung nimmt. Sicherlich, schon immer haben Musliminnen betont, dass sie das Kopftuch freiwillig tragen – aber wen hat das interessiert? Wer hat es medienwirksam in die öffentliche Meinung getragen? Wer ist auch nur auf die Idee gekommen, muslimische Frauen zu fragen? Es wurde einfach davon ausgegangen, dass das Kopftuch der Muslimin ein Symbol der Unterdrückung sei und auf dieser Grundlage wurden Gesetze erlassen.

Eigentlich ein Skandal

Dass es jetzt erst Jahre später auf Anregung der Deutschen Islamkonferenz zum ersten Mal eine repräsentative Studie gibt, die feststellt, dass über 90% das Kopftuch aus rein religiösen Gründen tragen und auch ausnahmslos alle anderen Beweggründe, die genannt werden, keineswegs auf Unterdrückung oder Zwang hindeuten, ist eigentlich ein Skandal. Dass die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nach eingehender Untersuchung daher in einem Bericht vom Februar diesen Jahres von einer Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung spricht ist eigentlich auch einen Skandal wert. Aber es schein niemanden mehr zu interessieren, der Zug ist abgefahren, das Thema Kopftuch hat eine so lange Nase, dass man es eigentlich nur noch für relevant erachtet, zu erwähnen, dass die meisten muslimischen Frauen kein Kopftuch tragen. Dass die Studie auch Ergebnisse bereit hält, die die Motive der Kopftuchtragenden Frauen analysieren, wird erst bei näherem Hinsehen deutlich – man muss sich dazu schon die Arbeit machen und die über 400seitige Untersuchung selbst in die Hand nehmen, denn die Medien berichten darüber schon längst nicht mehr.

„Nichts ist so mächtig, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, sagte der französische Schriftsteller Victor Hugo einst – aber leider ist auch kaum etwas so ohnmächtig, wie eine Erkenntnis, deren Zeit abgelaufen ist. Und leider haben die Medien auch ein ziemlich geringes Interesse, bestimmte Einsichten aus dem wissenschaftlichen Diskurs in das Bewusstsein der öffentlichen Meinung zu katapultieren, die ohnehin nicht in ihren Interesse sind. Medienwirksam waren dagegen Ereignisse, die polarisierten, die sofort das bereits vorhandene Schema über den Islam bekräftigten und dem Rezipienten das behagliche Gefühl gaben, außerhalb des Islams auf der richtigen Seite zu stehen.

Blicken wir einmal auf die letzten Jahre zurück: Kaum war der Streit um das Kopftuch im öffentliche Diskurs abgeklungen und die Debatte um so genannte Ehrenmorde, um Zwangsheirat und burkatragende Schülerinnen langsam zur alltäglichen Gewohnheit geworden, meldet sich eine Schar von Politikerinnen zu Wort, die eindringlich an die kopftuchtragenden Frauen appelliert, ihr Kopftuch und damit ihr rückständiges Verhalten nun endlich abzulegen, um im „hier und heute“ ankommen zu können und ihre eigene Integration und damit ihre Zukunft nicht weiter zu behindern. Unterstellt wurde dabei wieder einmal, das Kopftuch werde von Frauen getragen, die in archaischen Traditionen verharrend nicht in der Lage seien, sich für die Moderne zu öffnen. Das Bild der muslimischen Frau, die den Islam tatsächlich auch praktiziert, blieb damit negativ. Es verwundert daher nicht, dass das Institut für Demoskopie in Allensbach immer wieder zum Ergebnis kommt, dass über 90 Prozent der Befragten sagen, „sie dächten bei dem Stichwort Islam an die Benachteiligung von Frauen“.[1]

Ein Negativbild mit Folgen

Doch es geht und ging bei der Diskussion um die Rolle der muslimischen Frau nicht nur um das Islambild der Deutschen und die negative Wahrnehmung des Islams in der öffentlichen Meinung. Damit einhergehen vielmehr auch weitreichende Konsequenzen für die Integration der muslimischen Einwanderer. Denn die hitzigen Debatten in den Zeitungen und die zunehmend einseitige Darstellung der Muslimin in den Medien prägte auch das Verhalten der Politiker: Konkrete politische Entscheidungen, wie etwa verschärfte Einwanderungsregeln, um die Zwangsheirat zu unterbinden oder das Kopftuchverbot für Beamtinnen waren die Folge. Gerade Gesetze, die ein Kopftuchverbot durchsetzten, waren dabei besonders schwerwiegend für die Betroffenen. Interessant ist nun vor allem aus heutiger Sicht und mit heutigem Kenntnisstand zu beobachten, wie solche restriktive Maßnahmen begründet wurden, und ob sie auch damals überhaupt wissenschaftliche haltbar waren.

Das Hauptmotiv für ein Kopftuchverbot war nach der Bundesbildungsmininsterin Annette Schavan (CDU), die erklärte Tatsache, dass das Kopftuch ein politisches Symbol für den Islamismus und die Unterdrückung der Frau sei. Die Begründung Schavans wurde seitdem sie 1998 dafür plädierte, der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin das Unterrichten mit Kopftuch zu untersagen, gebetsmühlenartig von sämtlichen Medien und Politikern immer und immer wieder reproduziert und damit zum Faktum erklärt. Man schien hier gemäß des Prinzips, Wahrheit durch konstante Wiederholung zu etablieren, vorzugehen. Nach dem berühmten Thomas-Theorem sind zumindest die Konsequenzen einer für wahr erklärten Situation tatsächlich real. Indem also hier seitens bestimmter Politiker und Leitmedien suggeriert wurde, es sei eine eindeutig belegte Tatsache, dass das Kopftuch vor allem von politisch motivierten oder religiös unterdrückten Frauen getragen werde und dabei als Symbol für Intoleranz und die Ungleichheit von Mann und Frau stehe, wurde der Eindruck erweckt, es gäbe eine legitime Grundlage für politisch restriktiven Handlungsbedarf.

Jenseits der medialen Realität

Das erstaunliche an diesem Prozess war nun, dass man jenseits der medialen Realität erwarten sollte, für diese behaupteten Zusammenhänge empirische Nachweise liefern zu können. Es kann schließlich nicht sein, dass Politiker sich einfach nur auf ihre Perzeption der öffentlichen Meinung verlassen, gerade wenn es um ein solch brisantes und moralisch, wie emotional aufgeladenes Thema geht. Schließlich ist bekannt, dass es genügend sozialpsychologische Mechanismen gibt, die dazu führen, dass die öffentliche Meinung zu einer sehr verzerrten Wahrnehmung der Realität tendiert. Man vermutet daher, dass zumindest eine umfassende Studie vorgelegen haben muss, die Politiker, Richter und Journalisten zu der Annahme führte, kopftuchtragende Frauen seien unterdrückt, um davon ausgehend politisch, gesetzlich und sozial weitreichende Schritte zu veranlassen. Und tatsächlich ließen sich auch schon vor dem Zeitpunkt der Gesetzgebungen gleich mehrere wissenschaftliche Studien finden, die sich mit muslimischen Kopftuchträgerinnen befassten.

Doch überraschenderweise scheinen diese Studien größtenteils völlig ignoriert oder schlicht nicht rezipiert worden zu sein, da sie schon damals wiederholt und unabhängig voneinander zu bemerkenswert ähnlichen Ergebnissen kamen. Und zwar zu Ergebnissen, die eindeutig konträr zu den Positionen der Leitmedien und Politiker stehen und diesen sogar vehement widersprachen!

Klischeebild entlarvt

Da vor allem die früheren Studien so wenig bekannt sind, soll im Folgenden kurz auf die wichtigsten eingegangen werden. Gleich drei qualitative Untersuchungen zu muslimischen Kopftuchträgerinnen der zweiten Migrantengeneration in Deutschland wurden noch vor der Hochphase der Kopftuchdebatte durchgeführt. Sie basieren hauptsächlich auf biographieanalytische Interviews und haben vor allem Jungakademikerinnen zum Gegenstand.

Der Schwerpunkt in der Studie von Yasemin Karakasogul-Aydin, die ihre Arbeit bereits 1999 veröffentlichte, liegt dabei auf die Verknüpfung muslimischer Religiosität und Erziehungsvorstellungen bei angehenden Pädagoginnen. Sie beschäftigte sich also explizit mit den Beweggründen angehender Lehrerinnen, das Kopftuch zu tragen. Die befragten Lehramtsstudentinnen sehen sich als „professionelle Vermittlerin des Lehrstoffes und möchten ihre religiöse Orientierung als von allen Beteiligten zu akzeptierende persönliche Angelegenheit geachtet wissen.“[2] Von religiöser Indoktrination und fundamentalistischen Gedankengut nehmen sie wie erwartet großen Abstand und distanzieren sich mit aller Schärfe. Die Studie macht deutlich, dass sich diese Einstellung auch im gesamten Lebenswandel und der Weltanschauung der Befragten niederschlägt.

Gritt Klinkhammer (2000) dagegen interessierte sich dafür, wie junge muslimische Frauen angesichts der Konfrontation mit einer modernen Lebensführung den Islam für sich deuten und auslegen und fragte dabei nach dem geschlechtsspezifischen Selbstverständnis ihrer Probandinnen. Sigrid Nökel (2002) legte ihren Schwerpunkt auf den Alltag muslimischer Frauen und berücksichtigte auch weniger gebildete Musliminnen für ihre narrativ-biographischen Erzählungen. Alle drei Studien sind interessant zu lesen, da sie auf der Grundlage von Interviews entstanden sind und folglich aufgrund der vielen Originalzitate lebendig gestaltet sind. Allerdings findet sich für kopftuchtragende Musliminnen nicht viel Neues, einzig die Erkenntnis, dass auch viele andere (hier vor allem türkische) kopftuchtragende Frauen ganz ähnliche Beweggründe haben, das Kopftuch zu tragen wie man selbst und die Mehrheit damit keineswegs dem traditionellen Klischeebild der Medien entspricht, springt ins Auge.

Koran, Kopftuch, Küche?

So wird in allen drei Studien deutlich, dass die befragten Frauen das Kopftuch nicht frembestimmt, sondern freiwillig tragen und häufig neben der eigenen Religiosität das Vorbild der Mutter oder anderer Verwandten und Bekannten eine entscheidende Rolle spielt. Andererseits wird das Kopftuch auch oft in Abgrenzung zur älteren Generation getragen: Man distanziert sich damit von nicht-islamischen Traditionen und versucht wieder den ursprünglichen Islam zu praktizieren. Einen religiös-autoritären Erziehungsstil haben aber nur diejenigen Frauen erlebt, bei deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau ausgemacht werden konnte. Die Mehrheit der befragten Frauen stammt zwar aus bildungsfernen Familien, gleichzeitig zeigten diese Frauen jedoch eine starke Bildungs- und Aufstiegsorientierung. „Kopftuch, Küche, Koran“ passt daher nicht als Leitmotiv für diese Musliminnen, da müsste man die „Küche“ schon mit „Karriere“ ersetzen. Nichtsdestotrotz zeigte sich, dass muslimische Migrantinnen allesamt Mutterschaft als inhärenten Bestandteil ihres Lebens betrachteten und sich im Gegensatz zu einem Teil deutscher weiblicher Jugendlicher ein Leben ohne Kinderwunsch nicht vorstellen konnten.

Motive für das Kopftuch

Entscheidend ist nun, welche Motive die Frauen für das Tragen des Kopftuches nannten. Ohne im Detail auf die einzelnen Begründungen einzugehen, kristallisierte sich bereits damals eindeutig heraus, dass das Hauptmotiv die Einhaltung eines göttlichen Gebotes darstellte. Natürlich spielten auch traditionelle, soziale oder gesellschaftliche Gründe eine Rolle. Z.B. schöpfen viele Frauen Selbstbewusstsein durch das Tragen des Kopftuches oder kritisieren den sexistisch aufgeladenen öffentlichen Raum, dem sie sich zu entziehen versuchen, indem sie durch das Tuch ihre Persönlichkeit in den Vordergrund rücken. In diesem Zusammenhang wurde die Schutzfunktion des Kopftuches betont. Alle kopftuchtragenden Frauen hatten jedoch eines gemeinsam: Sie empfanden die Unterstellung der Politisierung ihrer Religiosität als Missachtung ihres persönlichen und individualistischen Zugangs zum Islam. Wen wundert es da, dass die neue repräsentative Studien „Muslimisches Leben in Deutschland“ genau das bestätigt?

Ein herber Schlag für Schavan

Dieses Ergebnis, das damals schon seit Jahren hätte bekannt sein müssen, sollte man eigentlich als einen herben Schlag für die Bundesbildungsministerin Schavan und ihren Mitstreitern werten. Doch waren zunächst noch Einwände möglich: Schließlich basierten die qualitativen Interviews nur auf jeweils um die 20 junge Musliminnen, sie waren somit nicht repräsentativ. Karakasogul-Aydin wurde außerdem als islamistische Voreingenommenheit ausgelegt, dass sie selbst Alevitin ist und offen für Diskussionen mit „konservativen Muslimen“. Zwar spricht es für sich, dass alle drei Studien unabhängig voneinander zu ähnlichen Ergebnissen kamen, so dass man quasi von kumulativen Replikationsstudien sprechen kann, deren Ergebnisse zusammen genommen besonders signifikant sind. Doch auch wenn man unabhängig davon die eben erwähnten Einwände gelten lassen würde, so waren sie spätestens 2006 deutlich entkräftet: Denn der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung hätte wohl niemand eine Voreingenommenheit unterstellen.

Gerade sie legte nun eine empirische Studie vor, bei der Gebildete, weniger Gebildete, Ältere, Junge, Hausfrauen und berufstätige Frauen, die das Kopftuch tragen, befragt wurden. Neben der Studie, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, Jugend zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund 2005 veröffentlichte, war das nun die zweite umfassende, quantitative Studie zum Thema. Während letztere allgemein Migrantinnen als Untersuchungsgegenstand hatte und muslimische Frauen nur eine Untergruppe bildeten, lag der Schwerpunkt der Konrad-Adenauer Studie ausschließlich auf dem Denken und der Einstellung muslimischer Kopftuchträgerinnen türkischer Herkunft. Allerdings stammten die kopftuchtragenden Musliminnen aus ausgewählten Moscheegemeinden, die Auswahl der Frauen war für Musliminnen in Deutschland daher nicht wirklich repräsentativ – diese Lücke schließt erst die dieses Jahr im Juni veröffentlichte Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“. Dennoch waren auch die damals publizierten Resultate nicht unbedeutend. Die Wochenzeitung Die Zeit kommentierte die Ergebnisse erstaunlich treffend: „Wer sie [d.h. die Konrad-Adenauer Studie] liest muss sich fragen, aus welchen Quellen die Verfechter des Kopftuchverbots ihre angeblichen Erkenntnisse eigentlich geschöpft haben“.

Kopftuch als religiöse Pflicht

So machte die Studie deutlich, dass die befragten muslimischen Migrantinnen erwiesenermaßen kaum anders denken als durchschnittliche Deutsche. Die Untersuchung bestätigt vielmehr die oben angeführten qualitativen Studien nun auch empirisch-quantitativ: 9 von 10 schöpfen durch das Tragen eines islamischen Kopftuches Selbstvertrauen, anstatt sich unterdrückt zu fühlen. Niemand nennt politisch-motivierte Beweggründe für das Kopftuchtragen, vielmehr sagen 97% die Bedeckung sei eine religiöse Pflicht, zudem sind 90% der Befragten für die Demokratie. 81% stimmen der Aussage zu, dass es „in der Ehe bei dem, was der Mann oder die Frau für Haushalt oder Familie tun, keine prinzipiellen Unterschiede geben sollte“. Vergleicht man insgesamt die Werte dieser Studie mit einer aktuellen repräsentativen Umfrage unter deutschen Frauen, so stellt man fest, dass die praktizierenden Musliminnen sogar noch karriereorientierter sind, prinzipiell aber sehr ähnliche Ergebnisse zu beobachten sind. Von einer „kulturellen Abgrenzung“ durch das Kopftuch, wie Schavan einst postulierte, kann also keine Rede sein. Und auch Alice Schwarzer, Necla Kelek und Konsorten machen sich eher lächerlich, wenn sie weiterhin vom Kopftuch als „Flagge islamistischer Kreuzzügler“ und einem „frauenverachtenden Symbol der Fanatiker“ sprechen.

Überlegenheitsgefühle unter Kopftuchträgerinnen?

Allerdings gibt es ein Ergebnis der Adenauer-Studie, das in den Feuilletons gerne instrumentalisiert wurde als Zeichen für die Positionierung der Kopftuchträgerinnen gegen die Menschenrechte. Jede dritte Kopftuchträgerin erklärte nämlich, nicht alle Menschen seien vor Gott gleich. Überlegenheitsgefühle und ein Gefühl der Auserwähltheit seien bei den Kopftuch tragenden Frauen deutlich stärker ausgeprägt, heißt es in der Studie. Das wurde zum Anlass genommen, dem Kopftuch nun doch die Funktion der Abgrenzung zu attestieren. Bevor man nun aber wieder versucht, einen Anlass zu finden, die Kopftuchträgerinnen skeptisch zu beäugen, sollte zusätzlich untersucht werden, wie die Frage verstanden wurde. Wer würde leugnen wollen, dass ein Massenmörder einen anderen Rang einnimmt, als eine Friedensnobelpreisträgerin? Es geht hier ja nicht um die prinzipielle Würde des Menschen, sondern darum, dass bestimmte Taten Gott wohlgefälliger sind als andere. Zwar kann der Mensch sich nach islamischer Lehre nicht anmaßen, selbst entscheiden zu können, wie Allah über Andere urteilt bzw. wie die Absichten des Einzelnen sind. Doch ist es ein Bestandteil des Glaubens vieler Religionen, dass man durch die Befolgung der Gebote Gottes und damit durch das Vollbringen guter Taten, Gottes Liebe, Seine Nähe und Sein Wohlgefallen erlangen kann. Dieser Glaube korreliert dabei nicht mit Stolz oder Arroganz, denn diese Eigenschaften zeichnen dem Koran zufolge Iblis, den Teufel aus und gelten daher als schwerwiegende Sünden (Koran, Sure 7: Vers 13).

Von daher kann es irreführend sein, pauschal von Überlegenheitsgefühlen der Kopftuchträgerinnen zu sprechen. Plausibler scheint es daraus abzuleiten, dass muslimische Frauen der Meinung sind, das Kopftuch sei ein Mittel, um Allah näher zu kommen – was nicht zwangsläufig heißt, dass alle Kopftuchträgerin Allahs Wohlgefallen auch tatsächlich erlangen. Schließlich ist das Kopftuch nur ein Gebot von mehr als 600 anderen. Das Gebot, sich zu bedecken, wird im Koran nur in zwei von über 6000 Versen erwähnt– im Gegensatz dazu fallen andere Aufforderungen des Korans viel schwerer ins Gewicht, man denke etwa an die immer wiederkehrende Aufforderung, gerecht, barmherzig und gnädig zu sein. Oder an die Tatsache, dass der Koran mit strengem Nachdruck ermahnt von seiner Vernunft Gebraucht zu machen (z.B. Sure 10: Vers 101). Das Kopftuchgebot erscheint dabei nur als ein i-Tüpfelchen, das der eigenen Überzeugung Ausdruck verleiht und das man nicht einfach ignorieren kann, wenn man an Allah als Urheber des Koran glaubt.

Bürger zweiter Klasse

Abgesehen davon können allerdings auch psychologische Motive eine Rolle für eventuell vorhandene Überlegenheitsgefühle spielen. Denn die Studie offenbarte auch, dass vier von fünf Befragten sich in Deutschland als Bürgerinnen zweiter Klasse behandelt fühlen. Vor diesem Hintergrund könnten möglicherweise vorhandene Überlegenheitsgefühle auch als Kompensation dienen für Erfahrungen der Demütigung, die aus der Diskriminierung des Kopftuches resultieren. Natürlich legitimiert diese Deutung eine solche Einstellung nicht – auch wenn sie damit erklärbar wird, so ist sie vor allem islamisch gesehen völlig unvereinbar mit moralischen Grundwerten des Islams, wie oben gezeigt wurde.

Dass es sich bei dem Gefühl des Ausgegrenzt-werdens jedoch nicht um ein rein subjektives handelt, zeigt die Tatsache, dass kopftuchtragende Lehrerinnen und teilweise auch Beamtinnen vor die Wahl gestellt werden, sich für ihren Beruf oder ihren Glauben zu entscheiden – was auch für Human Rights Watch Anlass genug war, heftige Kritik zu üben. Hinzukommt noch der mittlerweile immer wieder reproduzierte Allgemeinplatz, dass „im Interesse einer verbesserten Integration von Migrantenkindern im Schuldienst dringend mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund eingestellt werden sollten“.[3] Dennoch hat inzwischen die Hälfte der Bundesländer das Kopftuchverbot erlassen, allen eben dargestellten wissenschaftlichen Befunden zum Trotz.

Über die verhüllten Köpfe hinweg

Man wird das Gefühl nicht los, dass über die letzten Jahre hinweg gezielt versucht wurde, die rein religiös-weltanschauliche Bedeutung des Kopftuchs zu negieren. Denn im Anbetracht der Uneinigkeit über den konkreten Gehalt des Neutralitätsprinzips und dessen permanenter Verletzung durch die faktische Bevorzugung des Christentums im staatlichen Leben, hätte ein Kopftuchverbot keinen Bestand haben können, würde nicht eine politische, menschenverachtende Bedeutung unterstellt. Nur so lässt sich auch erklären, warum zum einen die vorhandenen qualitativen Studien ignoriert wurden bzw. erst sieben Jahre nach dem Entfachen des Kopftuchstreits 1998 die erste quantitative Untersuchung veröffentlicht wurde und nun im Jahre 2009 erst auf Anregung der Deutschen Islamkonferenz die erste repräsentative Studie analysiert hat, was wirklich die Motive der Kopftuchträgerinnen sind.

Dass man nicht schon viel früher auf eine empirische Überprüfung der Sachfrage insistierte, sondern sich vielmehr mit zahllosen Erwägungen darüber, was das Tragen des Kopftuches bedeuten könne oder nicht, zufrieden gab, ohne die Trägerinnen selbst zu fragen, muss umso mehr als ein Skandal gelten, als dass die nun veröffentlichten repräsentativen Ergebnisse dem Kopftuchverbot jegliche Grundlage entziehen. Jahrelang wurde somit eine Debatte über die verhüllten Köpfe der Musliminnen hinweg geführt. Die Leittragenden sind trotz wissenschaftlich relativ eindeutiger Sachlage die Musliminnen. Daher bleibt uns nur die Möglichkeit den wissenschaftlichen Diskurs in die politische Medienrealität einzuführen, indem wir uns mit fundierten Sachkenntnissen einmischen, wo es nur möglich ist. Denn hier geht es um die Verteidigung unserer Rechte. (kmh)

Karakasoglu-Aydin, Y. (1999): Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung zu Orientierungen bei türkischen Lehramts- und Pädagogik- Studentinnen in Deutschland. Diss. Frankfurt am Main.

Klinkhammer, G. (2000): Moderne Formen islamischer Lebensführung. Eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter Türkinnen in Deutschland. Diss. Marburg.

Nökel, S. (2002): Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie. Diss. Bielefeld.

Boos-Nünning, U. & Karakasoglu Y. (2005): Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen, Jugend. Berlin.

Jessen, F. & Wilamowitz-Moellendorff, v. U. (2006): Das Kopftuch –Entschleierung eines Symbols? Zukunftsforum Politik. Broschürenreihe herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Sankt Augustin/Berlin.

Haug, S., Müssig, S. & Stichs, A(2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Forschungsbericht im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Nürnberg.

[1] Noelle, E./ Petersen, T. (2006): „Eine fremde, bedrohliche Welt. Die Einstellungen der Deutschen zum Islam“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 2006.

[2] Karakasogul-Aydin, 1999, S. 437.

[3] Zeit Nr. 38, 14.09.2006