Beide Bücher sind erst neulich erschienen, beide Autoren polarisieren, beide provozieren mit ihren Buchtiteln. Vor dem Hintergrund ihrer Thesen könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Die Diskussion wird auf Grundlage von jeweils drei Thesen aus dem Buch „Der islamische Faschismus“ von Hamed Abdel-Samad und „Unter dem Schleier die Freiheit“ von Khola Maryam Hübsch geführt. Die Kontrahenten haben jeweils maximal zwei Minuten Zeit, um zu den Buch-Thesen des anderen Stellung zu nehmen.

DAS MILIEU: Herr Abdel-Samad schreibt auf Seite 61 seines Buches: „Religionen, die vielen Göttern huldigen, sind in der Regel toleranter und flexibler als die drei monotheistischen Religionen. […] Der abrahamitische Gott jedoch ist eifersüchtig und duldet keine Götter neben sich. Die Idee, dass es nur einen Gott gibt, der uns geschaffen hat, der alles bestimmt, was mit uns geschieht, der uns vierundzwanzig Stunden am Tag beobachtet, der unsere Gedanken und Träume kennt, der unser Leben mit Geboten und Verboten kontrolliert und uns bei Verfehlungen mit Höllenqualen bestraft – diese Idee ist der Ursprung der religiösen Diktatur, die wiederum Vorbild für alle anderen Diktaturen ist.“

Frau Hübsch, sehen Sie auch den Ursprung der religiösen Diktatur im Monotheismus?

Hübsch: Nein, natürlich nicht. Es gibt ja auch viele Anhänger polytheistischer Religionen, die im Verlauf der Geschichte in unzählige Kriegen verwickelt waren, die auch fanatisch und intolerant waren. Wenn man nur einmal an die hinduistische Kriegerkaste denkt, aber auch an die Geschichte des Islams, wo hauptsächlich polytheistische Mekkaner die Muslime grausam verfolgt haben. Oder wir kennen auch die polytheistischen Römer, die Christen verfolgt haben. Ich glaube aber was an diesem Zitat wichtiger ist…dass ein Gottesbild kolportiert wird, das fundamental dem widerspricht, wie sich Gott selbst im Koran vorstellt. Der Mensch ist ja von Gott frei geschaffen worden, im Gegensatz zu den Engeln, die nicht einen freien Willen haben. Der Mensch kann sich frei entscheiden, welcher Religion er angehören möchte oder nicht und ob er überhaupt an einen Gott glaubt. Er wird nicht dazu gezwungen, sich an die Gebote des Islams zu halten. Und all das, was als Weisheiten, was an Lehre im Koran formuliert wird, ist dazu da, um dem Menschen zu dienen und nicht, den Menschen zu quälen oder zu drangsalieren. Es soll ihmzu wahrer Freiheit und Zufriedenheit  verhelfen. Es ist ein barmherziger und gütiger Gott. Er kennt uns besser, als wir uns selbst. Er ist uns näher als die Halsschlagader. Das sind Formulierungen aus dem Koran. Das drückt für mich eine innige Verbundenheit in Liebe aus. Sie weist uns aber auch auf die Konsequenzen unserer Handlungen hin. Wir tragen Verantwortung, weil uns ein freier Wille gegeben wurde. Hölle ist in diesem Zusammenhang die Umschreibung für einen Zustand der Gottesferne. Über die Konsequenzen unserer Handlungen müssen wir uns bewusst sein und werden entsprechend vorgewarnt.

Abdel-Samad: Ja, es gibt hier eine Verkürzung der Geschichte. Als Muhammad in Mekka lebte, hätte er eigentlich keine Probleme haben müssen. Er hat zu Beginn die Araber zum Islam eingeladen, ohne dass ihm etwas passierte. Probleme bekam er erst, als er die anderen Religionen in Mekka in Frage gestellt hat und alles islamisieren wollte. Deshalb haben die Mekkaner ihn aus Mekka vertrieben, weil sie Angst um ihre Geschäfte hatten. Mekka war dafür bekannt, ein Ort der Toleranz zu sein. Alle Religionen durften dort praktiziert werden. Um die Kaaba herum waren Gottheiten für alle arabischen Stämme. In der Kaaba selbst hingen christliche und jüdische Bilder. Erst mit dem Islam kam die Monoreligion und Monokultur, so dass die anderen Religionen von der arabischen Halbinsel vertrieben wurden. Dass der Islam kein Zwang im Glauben kennt, höre ich sehr oft als Argument. Es bezieht sich auf den Vers: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“. Dieser Vers wurde später aufgehoben. Er galt als Muslime noch eine Minderheit waren. Da sprach man noch von Glaubensfreiheit, weil man diese Freiheit für sich selbst beanspruchte. Später aber, als die Muslime die Mehrheit bildeten und das politische Geschehen dominierten, gab es diese Regelung nicht mehr. Spätere Suren, die in Medina offenbart worden, sprechen nicht mehr von Glaubensfreiheit, sondern darüber, dass wer einen Glauben außerhalb des Islam annimmt, zu den Verlierern gehört und als Ungläubiger gilt. Der Ungläubige ist dann schlimmer als das Tier und muss bekämpft werden bis sie demütig Tribut, nämlich die Kopfsteuer zahlen. Das ist Machtpolitik und keine Glaubensfreiheit. Es gibt eine Doktrin im Islam, die Abrogation (nasikh wa mansukh) genannt wird. Frühere Verse werden durch spätere aufgehoben. Das vernachlässigt man, wenn man von Glaubensfreiheit spricht.

Hübsch: Das Abrogationsprinzip wird nicht von allen Muslimen anerkannt. Es gibt keine abrogierte Version, sondern alle Verse des Korans besitzen Gültigkeit. Zum Vorherigen: In der islamischen Geschichte haben die Mekkaner die muslimsiche Minderheit 13 Jahre lang grausam verfolgt. Hinter ihrer Verfolgung steckten handfeste ökonomische Interessen. Die Minderheit hat den Monotheismus propagiert, aber keinerlei Gewalt angewandt. Die Mekkaner hatten ein Problem mit dieser Minderheit, da sie ihre machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen gefährdet sahen. Schließlich wurde viel Geld mit dem Verkauf der polytheistischen Götterfiguren und durch die den Pilgern verdient. Es ist also vollkommen falsch, dass Mekkaner die toleranten und Muslime die aggressiven waren, das Gegenteil ist der Fall. Zudem steht nirgendwo im Koran, dass diejenigen, die nicht an den Propheten Muhammad glauben, also in Bezug auf seinen Anspruch auf Prophetentum „ungläubig“ sind, pauschal bekämpft werden müssten oder schlimmer als Tiere seien. Übrigens bezeichnete der Prophet in einer Prophezeiung die muslimischen Gelehrten unserer Zeit als „Affen und Schweine“. Man muss die Metaphorik verstehen, dass „nachäffen“  und unmoralisches Verhalten wird hier kritisiert. Und das unabhängig von der formalen Religionszugehörigkeit.

DAS MILIEU: Auf Seite 106 schreibt Herr Abdel-Samad: „‘Das gesamte Wissen befindet sich im Koran‘, das war die neue Geisteshaltung, die die Entfernung der Muslime vom weltlichen Wissen einleitete. Der Glaube sollte gereinigt werden und von fremden Einflüssen befreit werden. Am Ende standen die Verteufelung der Philosophie und des Wissens und die Unterdrückung von der Minderheiten, auch Frauen.“
Frau Hübsch, warum entfernten sich islamische Hochkulturen in der Geschichte Ihrer Meinung nach  immer weiter vom weltlichen Wissen?

Hübsch: Die Gründe sind vielfältig. Abdel-Samald wiederholt die Thesen Sarrazins. Beide verkennen, dass es eine Verbindung gibt zur Religion als wesentlichen Motor der wissenschaftlichen Entwicklung. Der Wissenschaftshistoriker  al-Khalili beschreibt in seinem Standardwerk im „Haus der Weisheit“, dass die arabische Wissenschaft im gesamten Goldenen Zeitalter untrennbar mit der Religion verbunden war und dass die wissenschaftliche Revolution der Abassidenzeit ganz eindeutig nicht hätte stattfinden können, hätte es den Islam nicht gegeben. Das liegt an der Lehre!
In 750 Versen, etwa einem Achtel des Buches, sagt der Koran, dass Menschen nachdenken sollen, die Natur studieren und ihre Vernunft gebrauchen sollen. Genau deshalb waren arabische Wissenschaftler auch Pioniere und Arabisch über 700 Jahre lang die internationale Sprache der Wissenschaft. Und der Prophet selbst sagt ja in Bezug auf Frauen, dass sowohl der muslimische Mann als auch die muslimische Frau nach Wissen streben müssen, er erklärte es zur Pflicht! Und er sagt, dass wer zwei Töchter hat, ihnen Bildung gewährt und keinen Unterschied macht, der wird mir im Paradies so nah sein, wie zwei Finger. Dass heutige Muslime das vergessen haben, wenn die Bildung der Massen aus machtpolitischen Gründen nicht forciert wird, ist das kein religiöses Problem. Die gleiche Religion, die einmal Motor für wissenschaftliche Entwicklung war, soll nun das Problem sein. Das Problem ist doch dann eher, dass man den Koran nicht studiert, dass darüber nicht mehr nachgedacht wird.

Abdel-Samad: Wer hat die religiöse Intoleranz auf der arabischen Halbinsel eingeführt? Als die Macht kam, hat Mohammed die Religionen nicht in Mekka gelassen, sondern reinigte Arabien von allem anderen. Bis heute leben keine Nicht-Muslime auf der arabischen Halbinsel. Das bringt mich zum nächsten Punkt. War es der Islam, der diese Blütezeit eingeleitet hat, was Wissenschaft und Philosophie angeht? Natürlich nicht! Sonst wären doch Mekka und Medina Stätte des Wissens und der Philosophie gewesen. Das waren sie noch nie und das sind sie bis heute nicht! Stattdessen waren es Bagdad, Kairo und Damaskus, wo früher schon Hochkulturen am Werk waren, wo arabische Eroberer jenseits ihres Glaubens pragmatisch wurden und Kooperationen mit diesen Hochkulturen angefangen haben. Sie lernten von ihnen und übersetzten die Werke der alten Griechen. Die ersten wirklichen Wissenschaftler im Islam waren Perser und keine Araber. Als diese Toleranz nicht mehr vorhanden war und der Durst nach Wissen verschwand, als  man sich auf die eigene Religion konzentriert hat, da gab es keine Kultur des Wissens mehr. Durch das Einführen der Scharia, womit die islamische Moral herrschte, endete die Kultur des Wissens und die Kultur der Einschüchterung begann.

DAS MILIEU: Herr Abdel-Samad schreibt auf Seite 127: „Überall in der Welt trifft man auf die gleiche Geisteshaltung und das gleiche Gewaltpotenzial unter radikalen Muslimen. Deshalb kann man das Phänomen Islamismus nicht vom Islam trennen, denn der Dschihad-Virus schöpft seine Sprengkraft aus der Lehre und Geschichte des Islam. Das Konzept des Dschihad haben nicht moderne Islamisten erfunden, es stammt vom Propheten Mohamed.“
Frau Hübsch, liegt Herr Abdel-Samad richtig?

Hübsch: Nein, ich glaube er begeht den großen Fehler, dass er seinen Blick nur auf den politischen Islam richtet, der keine hundert Jahre alt ist, der sich ja auch als Reaktion auf Fremdherrschaft und Kolonialismus erst ausgebreitet hat. Also das ist schon eine sehr steile und hanebüchene These. Die jüngste Geschichte des politischen Islam rückwirkend auf die gesamte Geschichte des Islam zu projizieren, macht keinen Sinn. Wenn wir uns den Koran anschauen und die Praxis des Propheten, dann finden wir unzählige Belege für Toleranz und das Miteinander von Religionen. Man denke nur an den Vertrag von Medina unter der Führung Muhammads, wo Juden, Polytheisten und Muslime gemeinsam eine Ummah (Gemeinschaft) gebildet haben, wo es auch eine Trennung zwischen Religion und Politik gab, keine Bevölkerungsgruppe privilegiert wurde und Religionsfreiheit herrschte. Das ist auch etwas, was im Koran verankert ist, wo Gerechtigkeit als oberstes Prinzip der Staatsführung beschrieben wird (Sure 4:60). Es geht dabei um einen säkularen Staat. So argumentiert beispielsweise auch der vierte Kalif der Ahmadiyya Muslim Jamaat.
Was diesen Dschihad-Begriff angeht. Der wird oft sehr verkürzt dargestellt. Wenn man die Verse des Koran in ihrem historischen und textuellen Kontext sieht, gelten die Verse, die sich mit Gewalt beschäftigen, ausschließlich für den Verteidigungsfall. Und es heißt dann auch, dass wenn Frieden angeboten wird, er angenommen werden muss. Man darf also den geschichtlichen Hintergrund nicht vernachlässigen. Man kann nicht von einem Gewaltpotenzial sprechen, wenn die Muslime in Mekka jahrelang verfolgt werden, nach Medina auswandern und sich erst dann, als sie dort angegriffen werden, verteidigen müssen. Man muss auch erwähnen, dass der Prophet gesagt, dass der größte Dschihad, der Kampf des Menschen gegen das eigene Ego ist. Man kann nicht aus einzelnen Versen den Aufruf zum Mord an alle Andersgläubigen ableiten! Das machen nur Fundamentalisten, weil sie wesentliche Passagen des Koran, die eine ganz andere Botschaft haben, ignorieren. Es ist daher die Aufgabe der aufgeklärten Muslime, den ganzheitlichen Kontext herzustellen und nicht den Fundamentalisten beider Seiten auf den Leim zu gehen.

Abdel-Samad: Es ist schwierig mit dem Dschihad. Der politische Islam ist nicht hundert Jahre alt. Frau Hübsch wiederholt nur die Thesen – das sogar wortwörtlich – von Islamwissenschaftlern wie Michael Lüders und Gudrun Krämer. Der Islam war aber von Anfang an politisch. Die Eroberungskriege begannen ja nicht vor hundert Jahren. Wo hat sich der Islam in Damaskus, Kairo oder Konstantinopel verteidigt? Wo gab es dort Muslime, die verteidigt werden mussten? Es ging dabei immer um politische Macht. Dieses Dschihad-Verständnis ist eine apologetische Haltung, die mit der Entwicklung des Islam nichts zu tun hat. Den politischen Islam hat es immer gegeben. Die vier theologische Rechtsschulen des Islam sind politisch. Ibn Taimiyya im Mittelalter gehört zum politischen Islam. Der Wahabismus ist im 18. Jahrhundert, also schon lange vor dem Kolonialismus entstanden. Das ganze nur als eine Reaktion auf den Kolonialismus zu bezeichnen, ist eigentlich eine Beleidigung der Muslime. Man bezeichnet dann alle Muslime eine Nation, die in einen Dornröschen-Schlaf gefallen war und dann kam der Westen und küsste sie wach. Der politische Islam? Was ist mit den türkischen Eroberungen? Was ist mit den Angriffen der Berber auf Europa? Was war mit den Almohaden und Almoraviden?

Hübsch: Jetzt bringen Sie einiges durcheinander. Lüders und Krämer sind im Gegensatz zu Ihnen anerkannte Islamwissenschaftler. Man muss dann auch von einem politischen Christentum sprechen, wenn man an viele kriegerischen Auseinandersetzungen denkt, die eben von Christen aus territorialen, aus politischen Gründen durchgeführt worden sind. Und natürlich wurde Religion missbraucht, es wurde im Namen von Religion Kriege geführt, die machtpolitisch motiviert waren. So wie heute im Namen der Demokratie Kriege geführt werden. Wir müssen da aber unbedingt zwischen der Lehre der Religion und Politik unterscheiden und darauf achten, wie Anhänger der Religion diese instrumentalisieren. Herr Abdel-Samad behauptet ja, dass die Gewalt aus den Ursprüngen des Islams kommt. Und genau das kann man anhand der Quellen des Islams, vielen Koranversen und anderen Überlieferung widerlegen, wenn man seine Vernunft gebraucht Da muss man die Exegese ernst nehmen und nicht einzelne Koranverse herauspicken, eigennützig und eigenwillig interpretieren und dann missbrauchen. Das macht eben der politische Islam der Fundamentalisten. Um ihre Kriege zu führen, brauchen und brauchten die Menschen keine Legitimation durch Religion, sie schaffen sich ihre Vorwände. Es ist darüber hinaus eine merkwürdige Vorstellung, Ideen könnten sich allein durch Gewalt durchsetzen. Wie heißt es so schön: Schwerter können Territorien erobern, aber keine Herzen, Gewalt kann Köpfe beugen, aber niemals den Geist. Es ist die zutiefst humanistische Lehre des Islam, die die Herzen der Menschen weltweit berührt.

Teil II: Drei Thesen – “Unter dem Schleier die Freiheit”

DAS MILIEU: Frau Hübsch schreibt auf Seite 56 ihres Buches: „Die gesamte Lehre des Islam zielt darauf ab, den Menschen zu vervollkommnen, ihn von einem primitiven Zustand in einem moralischen zu erheben und ihn von einem moralischen Zustand in einen geistig-spirituellen zu führen. Alle Gebote und Weisheiten, die im Koran erwähnt sind, haben das Ziel, den Menschen zu wahrer Gotteserkenntnis zu verhelfen, indem er sein Ego überwindet, die Attribute Gottes in sich verwirklicht und eine lebendige Beziehung zu Gott führt.“
Herr Abdel-Samad, haben Sie gegen dieses Ziel des Islam etwas auszusetzen?

Abdel-Samad: Nein, es gibt in der Tat im Islam dieses Ziel. Es gibt auch die geistige Kraft, die spirituelle Kraft im Islam, die Charakterstärke und Vervollkommnung des Menschen. Aber wenn ich den Begriff, die Vervollkommnung des Menschen höre, dann denke ich an politische Ideologien, die genau dieses Ziel verfolgen und den Menschen im Namen der Vervollkommnung verführt haben. Der Mensch ist nun mal nicht vollkommen und kann nicht vollkommen sein, denn der Mensch hat eine ganz irdische Natur, irdische Bedürfnisse. Er ist nicht gemacht, um geistig vollkommen zu sein. Diese Schwäche des Menschen ist etwas Großartiges. Der Islam und andere Religionen erkennen diese Schwäche des Menschen nicht an, sondern greifen diese Schwäche an oder ignorieren diese Schwäche. Sie leben nach einem moralischen Ideal, das eigentlich menschenfremd ist. Deshalb leben auch viele streng religiöse Menschen, ob christlich, jüdisch oder muslimisch in einer Doppelmoral, weil sie gegen die Natur des Menschen leben.

Hübsch: Also gerade der Islam nimmt für sich den Anspruch, eine Religion zu sein, die der Natur des Menschen entspricht. Es geht aber darum, dass der Mensch nach höherem streben soll. Das ist auch die Bedeutung des Dschihad. Das heißt alles nicht, dass der Mensch keine Schwächen hat. Der Koran spricht davon, dass der Mensch Fehler hat, das er streitsüchtig ist und Mängel hat. Aber Allah ist der Vergebende, der Barmherzige, der Gnädige. Es ist also ein Entwicklungsprozess, der auch zur Freiheit führt. Dadurch, dass der Mensch lernt seine Triebe kontrolliert mit der Vernunft einzusetzen, sie aufgrund ihrer Bestimmung nicht zu unterdrücken oder abzulehnen, sondern sie mit Vernunft einzusetzen, erreicht er einen moralischen Zustand, um frei zu werden. Damit wird der Mensch nicht zum Spielball seiner Triebe, sondern setzt sie gezielt ein. Diesen Zustand erreicht man erst, wenn eine gewisse Gottesnähe erlangt ist. Gottesnähe bedeutet Freiheit und dass man nicht durch weltliche Dinge in Abhängigkeit versetzt wird. Das sind spirituelle Gesetzmäßigkeiten, die angesprochen werden, die aber durchaus praxisnah sind. Es ist nicht etwas, was in der Realität nicht umzusetzen wäre. Das erfährt auch jeder spirituell-praktizierende Muslim. Schon in diesem Leben bringt es Zufriedenheit, inneren Frieden, Liebe zum Menschen und zu Gott. Es beschränkt sich also nicht nur auf das Jenseits. Auch der Dienst an dem Menschen ist der Dienst an Gott. Es ist wichtig, dieses Konzept ganzheitlich zu verstehen und nicht alles auf einzelne Aspekte zu reduzieren.

Abdel-Samad: Einer der Schwächen des Islams für mich ist, dass er Zweifel nicht zulässt. Zweifel ist der Motor des Fortschritts und des Denkens. Von Anfang an vorgefertigte und verpackte Wahrheiten zu verkaufen, diese dann als Realität und absolute Wahrheit zu akzeptieren, hindert die jungen Menschen daran, kritisch zu denken und für sich eine gewisse persönliche Entwicklung zuzulassen. Die Religion, die Zweifel nicht zulässt, betreibt eigentlich eine Selbstamputation.

Hübsch: Der Koran selbst beschreibt, wie Propheten anfingen, am Aberglauben ihrer Vorväter zu zweifeln. Zweifel und das Hinterfragen gehören dazu und sind wichtig. Vor allem aber das Hinterfragen seiner eigenen Motive. Der Islam fordert zur permanenten Selbstreflexion auf, zum Nachdenken über das eigene Handeln, über die Verantwortung sich und anderen gegenüber. Sich selbst in Frage stellen ist elementarer Bestandteil des großen Jehads, der Kampf gegen das Ego. Wer aber nicht bloß glaubt, sondern weiß, wer Gott real erfahren hat und Gotteserkenntnis besitzt, der zweifelt natürlich nicht mehr an der Existenz Gottes.

DAS MILIEU: Auf Seite 60 schreibt Frau Hübsch: „Es ist offensichtlich, dass die Vorstellung des Paradieses als ein Ort, in dem 72 Jungfrauen und Bäche von Milch und Honig auf den Gläubigen warten, in höchstem Maße infantil ist und bar jeglichen Wissens über die spirituelle Lehre des Islam. Sie zeugt von einer buchstabengläubigen Lesart des Koran in der Logik fundamentalistischer Fanatiker, die nichts vom Islam begriffen haben.“
Herr Abdel-Samad, übernehmen Sie die Logik fundamentalistischer Fanatiker, wenn Sie die angebliche Belohnung für Märtyrer kritisieren?

Abdel-Samad: Nein, ich übernehme die Logik der vier Rechtsschulen des Islam, für die das Paradies ein wahrer Ort und keine Metapher ist. Das was Frau Hübsch beschreibt, ist wunderschön und es wäre wünschenswert. Aber es tut mir auch leid, das in aller Deutlichkeit sagen zu müssen, das ist die Al-Ahmadiyya Art und Weise den Islam zu verstehen und nicht Mainstream-Islam. Ahmadiyya, die übrigens von anderen überall dort unterdrückt werden, wo sie sind.

Hübsch: Es ist aber der Koran selbst, der von Gleichnissen spricht. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat argumentiert aus den Quellen des Islams heraus. Wenn es im Koran um Paradiesbeschreibungen geht, dann heißt es ganz deutlich, dass es sich um Gleichnisse handelt (Sure 47:16). An einer Stelle heißt es: „Dies sind Gleichnisse, die Wir für die Menschheit aufstellen, doch es verstehen sie nur jene, die Wissen haben“ (29:44). Es ist also nicht etwas, das frei erfunden wäre, sondern dieses Verständnis gab es auch schon bei Gelehrten des Mittelalters. Der Koran selbst bietet die Grundlage dafür, das Paradies als einen Ort zu begreifen, der zwar real ist, aber im Koran metaphorisch beschrieben wird. Alles andere ist Buchstabengläubigkeit. Es ist auch eine sehr primitive Vorstellung, dass gewisse Dinge, die hier nicht erlaubt sind, Muslime im Jenseits bekommen – was wäre dann der Sinn hinter den Verboten? Der Kern der islamischen Lehre wird dadurch nicht begriffen. Der Zustand des Menschen nach dem Tode ist nicht ein völliger neuer, sondern er ist eine vollkommene Wahrnehmung und ein klares Abbild der Zustände im irdischen Leben. Es wird offenkundig und sichtbar, wie es um den Seelenzustand des Menschen steht, also eine Verkörperung der inneren Zustände.
Es ist sehr leicht zu sagen, dass das eine Minderheitenposition ist. Sollte es aber mittlerweile so sein, dann ist das immer noch kein Argument dagegen, sondern erst recht sollte man dann inhaltlich darüber nachdenken, wie diese Verse interpretiert werden können und wer das bessere Argument hat.

Abdel-Samad: Ich habe etliche Exegesen des Korans gelesen. Von Ibn Kathir bis Sayyid Qutb und alle im sunnitischen Mainstream-Islam gehen davon, dass Paradies und Hölle wahre Orte sind. Es ist richtig, wenn Frau Hübsch sagt, dass diese Vorstellung von Paradies infantil ist. Aber so ist es natürlich, weil es aus einer Männerfantasie geboren ist. Wer kommt auf die Idee, dass die Belohnung für einen Moslem nicht die vollkommene Vereinigung mit Gott ist, sondern das ein Moslem in einer Pornotopia lebt, wo er jederzeit Sex mit mehreren Frauen hat.

Hübsch: Das ist absurd, das steht nirgends im Koran.

Abdel-Samad: Dann lesen Sie doch die Exegese! Die Tatsache, dass es Randinterpretationen gibt, wie die der Al-Ahmadiyya und des Sufi-Islam bedeutet nicht, dass das die Interpreten des Mainstream-Islam genau so sehen. Das Paradies entspricht den Männerfantasien der Bewohner einer Wüste. Deshalb heißt es auch im Koran, dass es im Paradies weder Sonne noch Kälte gibt. Für Nordeuropäer ist es dann schrecklich, wenn man ihnen sagt, dass es keine Sonne gibt. Aber für jemanden, der in der Wüste lebt und unter der Hitze leidet, kann das sehr attraktiv sein.

DAS MILIEU: Auf Seite 176 schreibt Frau Hübsch: „Jeder zweite Deutsche hat Angst vor dem Islam. 60 Prozent der Deutschen sind der Meinung, man solle die Religionsausübung für Muslime in Deutschland erheblich einschränken. […] Es kann nichts sein, dass wir die Deutungshoheit über den Islam buchstabengläubigen Fanatikern, schrillen Vögeln und fundamentalistischen Islamkritikern überlassen.“
Herr Abdel-Samad, wer sollte Ihrer Meinung nach die Deutungshoheit über den Islam besitzen?

Abdel-Samad: Keiner! Kein Mensch! Der Islam eignet sich auch nicht dafür, dass irgendjemand die Deutungshoheit übernimmt. Der Islam hat keine Kirche oder einen zentralen Klerus. Wenn die Religion privatisiert ist, kann jeder Muslim für sich aufgrund seines kritischen Denkens und seiner persönlichen Bedürfnisse, seine eigene Interpretation suchen. Wir werden es nie schaffen eine Einheit herzustellen.

Hübsch: Meinungsfreiheit, Gedanken- und Gewissensfreiheit sind im Koran verankert. Ich glaube, wichtig bei der Auslegung des Koran ist, selbst den Koran als wichtigstes Zeugnis dafür anzusehen, wie die Verse interpretiert werden können. Die Verse können sich gegenseitig bestätigen, aber sie können sich nicht widersprechen. Die Auslegung und Praxis des Propheten ist wegweisend. Da gibt auch sehr viel, was für Toleranz und aufgeklärtes Handeln spricht. Man muss im Hinblick auf die Lehre mit reinen Absichten die Vernunft gebrauchen. Das ist gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig. Sicherlich haben wir da eine schwierige Situation. In dem Zusammenhang spricht man auch vom sogenannten Google-Islam oder Patchwork-Islam. Vor dem Hintergrund, dass wir nun viele merkwürdige Islam-Interpretationen haben, die teilweise – wie Sie sagen – zum Mainstream geworden sind, das zeigt auch, dass Muslime eine Reform nötig haben. Der Prophet Muhammad hatte selbst für unsere Zeit angekündigt, dass ein Messias und Mahdi kommen wird. Für mich ist eben diese Figur Mirza Ghulam Ahmad, der eine Koranexegese vorgenommen hat, die sehr erfrischend ist und von einem ganzheitlichen Verständnis des Islam geprägt ist. Er legte einen spirituellen und intellektuellen Weg vor. Seine Schriften haben uns für die heutige Zeit sehr viel zu sagen. Diese müssen auch als wichtiger Impuls begriffen werden und es tut sich hier auch sehr viel. Wir müssen also inhaltlich argumentieren und die Reformbestrebungen für einen aufgeklärten Islam ernst nehmen.

Abdel-Samad: Diese Ping-Pong-Interpretationen werden uns nicht weiterhelfen. Es wird immer Menschen geben, die den Koran eigensinnig oder auch politisch interpretieren. Ich finde es immer lobenswert, wenn es Menschen gibt, die neue Ansätze suchen, die eine menschlichere Interpretation des Korans suchen. Aber ich finde, im 21. Jahrhundert sollte unser Leben nicht davon abhängen, was der Prophet gemeint haben könnte oder was im Koran steht. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Für das Zusammenleben sollten aber ganz andere Regeln gelten: Humanismus, Demokratie, Menschenrechte. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Es sollte eigentlich mehr keine Rolle spielen, ob etwas mit dem Islam kompatibel ist oder nicht. Wir werden immer nette Muslime finden, die versuchen an den Versen des Koran herumzuschrauben bis sie an die moderne Zeit angepasst sind. Wir werden auch die schrägen Vögel haben, die sagen: Nein, das ist unislamisch! Wir sollten endlich einen postkoranischen Diskurs anfangen, egal was im Koran steht. Wir müssen im 21. Jahrhundert leben und nicht im 7. Jahrhundert!

Teil III: Abschlussdiskussion über Islamkritiker und gläubige Muslime

DAS MILIEU: Abschließend würde ich gerne um ein abschließendes Statement bitten. Was erwarten Sie jeweils von der anderen Seite?
Herr Abdel-Samad, was wünschen Sie sich von gläubigen Muslimen wie Frau Hübsch?

Abdel-Samad: Ich wünsche mir mehr Selbstkritik statt Ausreden und nur Beschönigungen. Was ich von Frau Hübsch vernommen habe, ist mehr Beschönigung als selbstkritische Haltung, wie man es besser machen kann. Ich würde mir auch wünschen, dass sich Frau Hübsch nicht nur dafür einsetzt, dass das Tragen des Schleiers als politisches oder religiöses Symbol salonfähig wird, sondern dass sie sich auch für diejenigen Frauen einsetzt, die zum Tragen des Schleiers gezwungen werden. Gerade in der deutschen Gesellschaft bringt das sonst auch nichts.

DAS MILIEU: Frau Hübsch, was wünschen Sie sich von Islamkritikern wie Herrn Abdel-Samad?

Hübsch: Zum einen wünsche ich mir einen gerechteren Umgang. Hätten Sie mein Buch gelesen, Herr Abdel-Samad, dann wüssten Sie, dass ich mich gegen Zwang im Glauben einsetzte, was natürlich auch heißt, dass man nicht zum Islam, zum Kopftuch gezwungen werden darf. Wir leben in einem säkularen Staat, wo Menschen mit unterschiedlichen Wertevorstellungen zusammenleben können. Aber dieses Klima in Deutschland wird leider von Islamkritikern wie Herrn Abdel-Samad vergiftet, weil versucht wird, alle möglichen, strukturellen, sozio-ökonomischen Umstände, geopolitischen oder machtpolitischen Interessen religiös zu erklären. Das alles wird dann unter dem Label der Religion vermarktet. Es entstehen dadurch Scheindebatten, die zu einem Problem werden, weil einer Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft aufgrund der durch die Islamkritiker geschürten Vorurteile misstraut wird. Das hat dann nichts mit Tabubruch und Aufklärung zu tun, sondern mit sehr viel Demagogie und dass man seine eigene Überlegenheit zu zementieren versucht. Aber neben den Islamkritikern gibt es auch Muslime, die sich im Namen des Islam unislamisch verhalten und damit eine Steilvorlage bieten, die Islamkritiker nutzen. Das alles trägt zu einem vergifteten Klima bei. Das finde ich sehr schade.

DAS MILIEU: Damit wären wir auch…

Abdel-Samad: Aber das ist genau, was ich meine! Ich höre von Frau Hübsch nur Beschönigungen und Ausreden, aber null Selbstkritik. Das ist Teil des Problems. Sie hat mich jetzt mit fundamentalistischen Muslimen gleichgesetzt, obwohl die Fundamentalisten frei auf der Straße herumlaufen können. Auch Frau Hübsch kann ganz normal mit ihrem Kopftuch auf der Straße herumlaufen ohne Angst haben zu müssen und ich muss um mein Leben fürchten. Das hat sie mit keinem Wort erwähnt!

Hübsch: Herr Abdel-Samad, ich habe deutlich gesagt, dass ich gegen diese Fatwa bin, die gegen Sie erlassen wurde! Diese Fatwa ist absolut nicht aus den islamischen Quellen zu erklären, wie ich sie verstehe. Das ist eine deutliche Kritik an den  sogenannten islamischen Gelehrten, die solchen Unfug von sich geben. Man hat die Todesstrafe für Sie angesetzt, aber wenn man hier anhand der Quellen des Islams argumentiert, dann sehen wir, dass der Koran keinerlei weltliche Strafe für Blasphemie oder Apostasie, geschweige denn Islamkritik vorsieht. Ich glaube, dass…

Abdel-Samad: Wo ist die Selbstkritik? Wo ist die Kritik aus islamischer Sicht? Wenn ich das von gläubigen Muslimen höre, dass sie angefangen haben diese Selbstkritik selbst zu betreiben, dann werde ich meine Kritik nicht mehr betreiben. Dann ist sie  auch nicht mehr notwendig! Dann ist die Angst von vielen Menschen in diesem Land auch unbegründet. Dann hätten die Muslime das Heft selbst in der Hand, um die Probleme zu lösen. Alles als Scheindebatten zu bezeichnen und alle Probleme für konstruiert zu halten, das ist Schönfärberei. Es kommt bei der deutschen Gesellschaft nicht an, weil es unehrlich ist!

DAS MILIEU: Wir müssen zum Ende kommen.

Hübsch: Es sind ja Probleme, die wir ohne Frage haben. Aber es ist eine Scheindebatte, wenn man sagt, dass  die Wurzel aller Probleme die Religion ist und das war’s! Wenn man dabei beispielsweise die sozio-ökonomischen, strukturellen, bildungsbezogenen Ursachen und geopolitischen oder machtpolitischen Interessen verkennt, dann ist das unehrlich. Sie können doch nicht einfach behaupten, dass der Koran an allem schuld ist und fertig!

Abdel-Samad: Ich habe doch nie gesagt, dass allein der Koran Schuld ist. Dann haben Sie mein Buch nicht gelesen! Ich rede darin von der Bildung, von der Wirtschaft, von geopolitischen Problemen, aber wir wollen doch nicht am Ende das marxistische Deutungsmuster benutzen, dass alle Probleme sozioökonomisch entstanden sind und sozioökonomisch zu lösen sind. Auch Kultur und Religion tragen dazu bei, weil sie eben die Bildung, Wirtschaft und Politik beeinflussen. Gerade der Islam ist da sehr aktiv. Daher kann man nicht sagen, dass die Religion damit nichts zu tun hat. Das ist Schönfärberei und unehrlich!

Hübsch: Gerade die Religion könnte ein Impulsgeber und sogar eine Waffe sein im Kampf gegen diese Probleme.  Daher werbe ich für ein aufgeklärtes Islamverständnis, das uns weiterhilft. Das ist mein Einsatz, zu sagen, dass es unzählige Probleme gibt, mit denen wir fertig werden müssen, gerade in der sogenannten islamischen Welt, wo Menschen die Religion für ihre egoistischen Motive missbrauchen. Das sehe ich sehr kritisch und genau hier knüpfe ich an.

DAS MILIEU: Das ist natürlich eine Diskussion, die wir unendlich weiterführen, aber wir müssen hier aufhören. Vielen Dank für das sehr interessante Gespräch, Herr Hamed Abdel-Samad und Frau Khola Maryam Hübsch!