Über das Verbot der Vollverschleierung von muslimischen Frauen wird wieder heftig gestritten. Doch die Argumente der Befürworter überzeugen nicht wirklich. Und den hier lebenden Muslimen wird ein fatales Signal gegeben.

Warum diskutieren wir eigentlich seit Jahren und immer wieder über ein Verbot der Vollverschleierung? Dabei wissen wir doch: Ein allgemeiner Bann wäre verfassungswidrig, zumindest wenn es nach der herrschenden Meinung der Verfassungsrechtler geht. Offenbar geht es um viel mehr als um ein Kleidungsstück, verkürzt nach der afghanischen Radikalvariante Burka benannt, das viele Deutsche als Zumutung empfinden.

Werden wir nicht mit dieser strikten Ablehnung gerade denjenigen ähnlicher, die wir mit einem Verbot zu bekämpfen meinen?

Es geht in dieser von der früheren EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann als „hysterisch“ bezeichneten Debatte um restriktive Religionspolitik, das Zurechtweisen von Minderheiten, Kleidervorschriften.

Sollte unsere Antwort auf den staatlich verordneten Verschleierungszwang in autokratisch-fundamentalistischen Regimen wie Saudi-Arabien und Iran wirklich das Verschleierungsverbot sein?

Die freiheitlich liberale Gesellschaft wird auf die Probe gestellt. Knicken wir jetzt ein, spielt das den Ideologen auf beiden Seiten in die Hände. Rechtspopulisten freuen sich, dass sie die Agenda setzen durften. Islamisten lachen sich ins Fäustchen, denn sie haben schon immer behauptet, der Westen benutze Menschenrechte nur als Vorwand, um völkerrechtswidrige Eingriffe zu legitimieren und missachte sie, wenn es um Muslime gehe – Abu Ghraib, Guantanamo, Minarettverbot, Kopftuchverbot, Burkaverbot. Der Westen sei der Westen nur für den Westen.

Ja, es stimmt: mit der Burka-Debatte wird Symbolpolitik betrieben. Doch symbolische Rechtspflege ist gefährlich, denn sie korrumpiert die Glaubwürdigkeit des Gesetzes. Was versucht wird, ist ein Entgegenkommen: Wir beruhigen den rechten Rand, der längst in die Mitte der Gesellschaft übergreift.. Wir signalisieren: Wir sind die Herren im Haus. Machtpolitisch weisen wir eine Minderheit zurecht, die wir nicht haben möchten. Wir suggerieren Handlungsfähigkeit angesichts einer Terrorgefahr, die wir nicht in den Griff bekommen können. Wir insinuieren: Wir tun was. Wir lassen nicht alles mit uns machen.

Was auf der muslimischen Seite ankommt ist: Ihr wollt uns nicht. Ihr seid nicht gerecht. Ihr verbietet, was euch nicht passt. Ihr seid inkonsequent und handelt doppelmoralisch. Ihr seid auch nicht besser.

Wie überzeugend und stichhaltig sind die wichtigsten Argumente der Burka-Gegner?

1. Frauen werden zum Schleier gezwungen.

Wer sagt das? Diese Aussage, so naheliegend sie einem westlich sozialisierten Menschen auch vorkommen mag, ist zunächst eine Behauptung, die empirisch nicht belegt ist. Es gibt qualitative Studien, die für Frauen in Europa das Gegenteil nahelegen. In freiheitlichen Ländern gibt es alle möglichen Außenseiter, die alle möglichen Dinge tun, die uns nicht gefallen müssen. Natürlich gibt es einen Einfluss der Sozialisierung und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Solange es einer Person ein inneres Bedürfnis ist, steht es uns jedoch nicht zu, paternalistisch eine bestimmte Form der Lebensführung als nicht autonom gewählt abzukanzeln und einzuschränken. Spricht man mit Frauen in europäischen Ländern über ihre Beweggründe, den Gesichtsschleier zu tragen, erhält man Antworten, die vielleicht befremdlich klingen mögen – aber, dass sie selbstbestimmt formuliert werden, daran bleibt kaum ein Zweifel. Es sind Frauen, die in Frankreich auf die Straße gegangen sind, um gegen das Burka-Verbot zu demonstrieren. Diesen Frauen die Ausübung ihrer Freiheit aufgrund einer ihnen unterstellten „Unfreiheit“ zu verwehren ist ein Widerspruch.

Natürlich ist Zwang nicht kategorisch auszuschließen. Doch selbst wenn Zwang im Spiel sein sollte, bestraft ein Verbot die Opfer und nicht die Täter. Nach dieser Logik müsste man alle Frauen bestrafen, die heiraten: Denn es gibt Frauen, die zwangsverheiratet werden. Will man in Zukunft den muslimischen Frauen das Heiraten verbieten? Statt also die Täter zu bestrafen, schränkt ein pauschales Verbot auch die Freiheitsrechte jener Frauen ein, die sich selbstbestimmt verschleiern.

2. Die Burka ist ein Angriff auf die Menschenwürde.

Wer definiert, was der Würde des Menschen angemessen ist? In orthodox-konservativen Kreisen gilt freizügige Kleidung als „würdelos“. Geht es also um die Würde der Frau oder bloß um die Wahrung eines bestimmten, westlichen Frauenbildes? Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen, empfinden es häufig als Angriff auf ihre Würde, dass ihnen das Grundrecht auf Selbstbestimmung abgesprochen wird. Für sie gehört das Tragen des Schleiers zu ihrer Identität und Integrität – zu ihrer Würde. Sie empfinden es als entwürdigend, wenn Frauen gezwungen werden, sich zu entblößen. Zentral ist: Die Menschenwürde ist ein Abwehrrecht des Bürgers. Wenn nun der Staat im Namen der Menschenwürde paternalistisch eingreift und Vorgaben macht, kommt es zu einer Tyrannei der Würde.

3. Die Burka entmenschlicht Frauen und macht sie zum Objekt.

Das zentrale Problem an diesem Argument ist, dass es in westlichen Gesellschaften eine Vielzahl von Kontexten und Kleidungsformen gibt, die Frauen mehr oder weniger zum Objekt machen. Von Pornografie und Prostitution bis hin zu Sexzeitschriften und Schönheitsnormen – unsere Gesellschaft ist durchzogen von Symbolen, die Frauen sexualisieren und damit zum Objekt degradieren. Es ist ausgesprochen inkonsequent nur die Verdinglichung der Frau zu verbieten, wenn sie außerhalb unserer gesellschaftlich und kulturell akzeptierten sexistischen Darstellungen liegt. Es ist zutiefst unfeministisch, Frauen im Namen der Gleichberechtigung in kolonialer Manier gewaltsam „zwangsemanzipieren“ zu wollen. Der Kampf um das Burka-Verbot ist kein altruistischer Versuch, unterdrückte Frauen zu retten, es ist ein Kampf um Leitkultur. Sexismus bekämpft man im Übrigen nicht mit der Einschränkung von Freiheitsrechten für Frauen, sondern mit Überzeugungskraft.

4. Die Burka passt nicht zu unseren Werten.

Zu den Grundwerten unserer Gesellschaft gehört die Religionsfreiheit und das Recht auf Selbstbestimmung – auch für Minderheiten. Diese Rechte können nicht eingeschränkt werden, solange Rechte Dritter nicht verletzte werden. Welche Rechte anderer werden beim Anblick einer vollverschleierten Frau verletzt? Gerade das Grundgesetz schützt auch einen Lebensentwurf, der von der Norm abweicht. Man muss nicht Mainstream sein, man darf ausdrücklich auch Freak sein – solange andere Rechtsgüter nicht gefährdet sind. Allein die Tatsache, dass die Mehrheit sich beim Anblick eines Gesichtsschleiers unbehaglich und befremdet fühlt, reicht noch lange nicht, um Freiheitsrechte zu entziehen. Es gehört zu unseren schwer erkämpften Werten, dass die Mehrheitsmoral nicht Maßstab für das Handeln eines Individuums sein muss.

5. Die Burka verhindert Integration.

Das ist gut möglich. Aber es gibt keine Pflicht zur Integration – es gibt jedoch ein Recht darauf, Außenseiter zu sein. Man kann schließlich auch nicht Schweige-Mönche oder kontemplative Nonnen gewaltsam in die Welt hinaus befreien. Abgesehen davon können vollverschleierte Frauen sehr wohl mit ihrer Umwelt kommunizieren. Spricht man mit ihnen, findet man zum Beispiel heraus, dass sich unter ihnen konsumorientierte, religiös eher desinteressierte Araberinnen finden oder pubertierende Mädchen, die die Schockwirkung des Gesichtsschleiers entdeckt haben. Oder Konvertitinnen, die auf ihre Weise gegen die Vermarktung des weiblichen Körpers protestieren sowie tief religiöse Menschen. Womöglich finden sich auch extremistische Salafistinnen oder IS-Sympathisantinnen darunter. Manche dieser Frauen experimentieren jedoch herum und tragen den Gesichtsschleier nur versuchsweise oder vorübergehend. Droht man ihnen mit einem Verbot sorgt das für Verbitterung und mitunter für eine extreme Trotzreaktion und Radikalisierung. Und diejenigen, die tatsächlich gezwungen werden, dürfen nach einem Verbot möglicherweise gar nicht mehr das Haus verlassen.

erschienen am 01.09.2006 auf faz.net