Global Review: Frau Hübsch, Sie treten in letzter Zeit vermehrt in Talkshows und Diskussionsrunden auf als das nette und tolerante Gesicht des Islam. Mit welcher Legitimation beanspruchen Sie für den Islam zu sprechen und aufgrund welcher Kompetenz? Wollen Sie eine Art neuer Prophet, zumal ein weiblicher sein, der den Koran neu interpetiert, eine Art islamischer Luther?
Das sind jetzt ziemliche viele Behauptungen, die Sie da aufstellen. Erstens ist das Ihre Interpretation, mich als das „nette und tolerante Gesicht“ des Islam zu bezeichnen. Ja, mir ist ein respektvolles und friedliches Miteinander ein zentrales Anliegen, aber das heißt nicht, dass das den Leuten gefällt. Ich bekomme massenhaft Zuschriften von Menschen, die es nicht ertragen überhaupt eine Muslima – und dann noch mit Kopftuch! – im deutschen Fernsehen zu sehen. Für diese Leute bin ich allein deswegen schon nicht tolerant und nett, weil ich ein Kopftuch trage oder z.B. Männern nicht die Hand schüttele. Das ist für sie schon die personifizierte Intoleranz. Für diese Leute ist nur eine bis zur Unkenntlichkeit assimilierte Muslimin eine tolerante Muslimin. Und dann vertrete ich auch noch Positionen, die ganz sicher nicht Mainstream sind. Etwa kürzlich in der Burka-Debatte: Die Mehrheit der Deutschen ist für ein Burka-Verbot, ich habe mich jedoch deutlich dagegen positioniert. Damit macht man sich nicht beliebt. Wenn Sie mit Ihrer Frage also suggerieren möchten, ich würde mich anbiedern, indem ich den Leuten einen freundlichen Islam präsentiere, dann liegen Sie falsch. Ich vertrete auch unbequeme Standpunkte, denn mir geht es nicht darum, den Islam „weich zu spülen“ oder schön zu reden, sondern um Aufklärung und das Vermitteln der islamischen Perspektive.
Übrigens beanspruche ich für mich persönlich natürlich nicht für „den Islam“ zu sprechen. Das ist wieder eine Behauptung – ich habe nie den Anspruch erhoben in irgendeiner Form für alle Muslime in Deutschland repräsentativ zu sein, das ist ja auch absurd, das kann niemand für sich beanspruchen. Genauso wenig, wie jemand für sich beanspruchen kann aufgrund einer Kompetenz zu Gesprächsrunden eingeladen zu werden. Diejenigen, die diese Diskussionen organisieren, halten mich anscheinend für kompetent genug – die können Sie ja fragen, warum.
Ich beanspruche für mich noch nicht einmal die Kompetenz, den Koran eigenständig interpretieren zu können. Ich berufe mich tatsächlich auf einen Propheten, nämlich auf den Messias und Mahdi, Hazrat Mirza Ghulam Ahmad (Friede sei auf ihm), der vom „Siegel des Propheten“ Muhammad (Friede und Segen Allahs sei auf ihm) prophezeit wurde und von allen anderen Muslimen noch erwartet wird. Seine Aufgabe war es, den Islam in unserer Zeit zu reformieren und wiederzubeleben – er hat die Ahmadiyya Muslim Jamaat gegründet, eine Organisation von Muslimen, die sich diesem Ziel widmet.
Ich beziehe mich auf seine Interpretation des Korans, die aber dadurch, dass sie anhand der anerkannten islamischen Quellen (das Leben des Propheten Muhammad und seine Überlieferungen) argumentiert, keine neu-Interpretation darstellt. Das heißt, unter Reform verstehen wir keinen neuen Islam, sondern ein Wiederbeleben des Ursprungs und der ursprünglichen, wahren Lehre des Islams. Die Legitimation für diesen Anspruch – nämlich der von allen großen Religionen vorhergesagte Messias zu sein – nimmt Hz. Mirza Ghulam Ahmad von Gott selbst. Wir dürfen nicht vergessen: Wir haben es hier mit Religion zu tun. So wie Gott sich früher offenbart hat, offenbart er sich auch heute noch. Der Islam ist keine weltliche Institution, Organisation oder Partei – sondern eine Religion, die davon lebt göttlichen Ursprungs zu sein. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, den Islam zu reformieren oder die wahre Lehre des Islam und die richtige Interpretation des Islams zu kennen, außer ein Prophet, der von Gott dazu beauftragt wurde. Jedem anderen fehlt die Legitimation tatsächlich. Über den Anspruch eines Propheten hat es schon immer unterschiedliche Meinungen gegeben – man kann an ihn glauben oder nicht.
Global Review: Sie sind der Ansicht, dass der Islam historisch zu interpretieren und dass er eine Religion der Toleranz und Barmherzigkeit sei. Ist dies überhaupt die Mainstreamsichtweise der muslimischen Verbände und der muslimischen Theologen? Der liberalere Khorchide erregte ja gerade mit seinem Buch, in dem er Allah als Gott der Barmherzigkeit schilderte allgemeinen Widerspruch bei Muslimverbänden und Theologen, die von einem rächenden und strafenden Gott ausgehen. Und die historische Sichtweise des Korans und Muhammeds sieht ja Hamed Abdel-Samad gerade als das Manko der Mainstreamauslegungen an. Wie repräsentativ sind Sie mit dieser Meinung überhaupt?
Wenn fast jede einzelne Sure der 114 Suren des Korans mit dem einleitenden Vers „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen“ beginnt, und Allah davon spricht, dass seine Barmherzigkeit allumfassend ist (7:157), wird schon deutlich, dass das übergeordnete Prinzip, mit dem sich Allah im Koran vorstellt, das der Barmherzigkeit ist, daran besteht kein Zweifel.
Ich bin jedoch nicht der Meinung, der Islam sei nur historisch zu interpretieren. Was ich sage ist das, was letztlich alle kundigen Koranexegeten schon seit Jahrhunderten tun: Dass der Offenbarungsanlass bei der Interpretation berücksichtig werden muss. D.h. man muss wissen, was der historische Kontext ist, um die Verse des Korans angemessen interpretieren zu können. Das ist nun wirklich nichts neues, man spricht von den sog. „asbab an nuzul“. Ich glaube nicht, dass die Koranverse nur für eine bestimmte Zeit Gültigkeit besitzen. Der Koran beansprucht für sich ein widerspruchsfreies Buch zu sein, das für alle Zeiten und alle Völker die letzte gesetzgebende Offenbarung Gottes darstellt. Aber natürlich gibt es Koranverse, die sich auf eine ganz konkrete Situation beziehen – das gebietet allein schon die Vernunft: Den historischen und vor allem auch den textuellen Kontext zu berücksichtigen. Vieles wird dann schon deutlich. Wenn es z.B. in der Sure 9 heißt „tötet die Ungläubigen“, dann ist das kein pauschaler Imperativ. Es geht in dieser Sure um eine Kriegssituation und um einen ganz konkreten Verteidigungskontext. Der historische Kontext ist, dass die frühen Muslime 13 Jahre lang Verfolgung, Folter und Boykott durch die polytheistischen Mekkaner ausgesetzt waren und sich nicht gewaltsam wehrten. Als sie dann schließlich nach Medina auswanderten (damit fängt die islamische Zeitrechnung an), um friedlich leben zu können und ihre Religion zu praktizieren, wurden sie dort wiederum von den Mekkanern angegriffen. Erst dann wurden die Koranverse offenbart, die den Muslimen die Erlaubnis gaben, sich zu verteidigen, damit die Religionsfreiheit nicht nur für Muslime, sondern für alle wieder hergestellt sei – und auch für diese Verteidigungskriege sind scharfe Regeln formuliert. All das ist nachzulesen im Koran (z.B. Sure 2:192-194; 22: 40). Der Krieg ist sofort zu beenden, wenn der Feind den Angriff beendet (Vgl. 8: 62; 4:91). Gerade die Exegese in Bezug auf die Ablehnung von Gewalt ist übrigens längst keine Minderheitenposition, weder praktisch noch theologisch. Schauen Sie sich etwa den offenen Brief der 120hochrangigen Gelehrten aus der sog. islamischen Welt an Al-Bagdadi von Daehs (IS) an.
Aber mir geht es auch nicht um Repräsentanz, sondern um Plausibilität. Mir geht es nicht darum, die Mehrheit der Muslime zu vertreten, sondern mich für das Islamverständnis, das ich für richtig halte, einzusetzen und dafür zu streiten. Wichtig ist, dass sich die Argumentation auf die anerkannten, islamischen Quellen bezieht, die von fast allen Muslimen akzeptiert werden. Deswegen ist es auch erst mal nicht entscheidend, ob ich eine Ahmadi-Muslimin bin oder nicht – auch wenn ich meine theologische Position natürlich von den Khalifen der Ahmadiyya Muslim Jamaat übernehme: Zentral ist, dass anhand von Quellen argumentiert wird, die für alle Muslime relevant sind.
Es geht also um einen inhaltlichen Disput, um eine theologische Diskussion, die inner-islamisch dringend geführt werden muss. Wenn es z.B. die Lehrmeinung gibt, dass auf Apostasie die Todesstrafe stehen müsse und etwa die Hälfte der sog. islamischen Länder eine Strafe auf Apostasie formuliert, ist das hochproblematisch. Der vierte Khalif der AMJ hat diese Lehrmeinung bis ins Detail theologisch widerlegt . Mit diesen Argumenten muss man sich auseinandersetzen als Muslim, der anderer Meinung ist. Ich glaube, dieser innerislamische Disput ist wichtiger denn je, in der heutigen Zeit, wo wir es mit islamistischem Terror zu tun haben. Und natürlich werden diese unterschiedlichen, muslimischen Positionen sich teilweise auch im öffentlichen Diskurs wiederfinden. Das ist auch richtig so. Man kann dann selbst entscheiden, was man überzeugender findet und welche Position man unterstützen möchte.
Im Übrigen gibt es niemanden, der alle Muslime in Deutschland repräsentieren könnte. Der in den Medien sehr präsente Aiman Mazyek vertritt als Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, der etwa 10 000 Mitglieder hat, nur eine kleine Minderheit der 5 Millionen Muslime in Deutschland – so gesehen dürfte er auch nicht mehr eingeladen werden. Oder der Liberal-Islamische Bund, der von Lamya Kaddor gegründet wurde und nur eine verschwindend geringe Prozentzahl der Muslime in Deutschland als Mitglied haben dürfte – und dennoch ist Frau Kaddor sehr präsent in den Medien. Der Punkt ist, dass niemand die Mehrheit der Muslime in Deutschland repräsentieren kann, da die meisten Muslime schlicht nicht in Verbänden organisiert sind. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) hat in Deutschland immerhin über 35 000 Mitglieder, gehört zur ältesten muslimischen Gemeinschaft hier, hat die ältesten Moscheen gebaut und ist mittlerweile als einziger muslimischer Verband eine Körperschaft des öffentlichen Rechtes. Zudem hat sie weltweit mehrere 10 Millionen Mitglieder und ist wie keine andere muslimische Organisation international vereint, da es einen Khalifen gibt, der die AMJ leitet. Gerade in Deutschland hat die AMJ entscheidendes beigetragen sowohl für den interreligiösen Dialog als auch für die Etablierung des Islams in Deutschland, denken Sie an die Schriften und Koranübersetzung, die sie im Nachkriegsdeutschland auf deutscher Sprache veröffentlichte oder das ehrenamtliche Engagement deutschlandweit. Ich denke, das ist eine wichtige Stimme, die in Zukunft weiterhin an Einfluss gewinnen wird, schließlich wächst die AMJ weltweit sehr dynamisch. Von daher macht es nur Sinn, dass wir im öffentlichen Diskurs auch Meinungen von Mitglieder der AMJ hören.
Global Review: Finden Sie es richtig, dass in dem Medien, wenn es um Muslime geht zumeist immer nur religiöse Kopftuchträgerinnen eingeladen werden, die beanspruchen für den Islam zu sprechen, aber laut Alice Schwarzer tragen 80% der deutschen Muslima überhaupt kein Kopftuch und verstehen Islam eher als Familientradition, zumal die meisten in keine Moschee gehen. Ist das nicht eine Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse? Zumal eben auch die Frage ist, ob das Kopftuch überhaupt eine Verpflichtung für Muslima im Islam ist.
Das ist nun wieder einmal eine kontrafaktische Behauptung, die mich sehr erstaunt. Aber das zeigt, wie verzerrt Ihre Wahrnehmung ist und Sie sind damit sicher nicht allein. In den Medien wurde jahrzehntelang exzessiv über Muslime diskutiert – ohne dass kopftuchtragende Frauen eine Stimme gehabt hätten. Teilweise wurden hochemotionale Debatten über die Köpfe der kopftuchtragende Frauen hinweg geführt, und das über Jahre hinweg! Denken Sie etwa an die Diskussion um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen. Eine Debatte, die Ende der 1990er losging – erinnern Sie sich an irgendeine Kopftuchträgerin, die damals medial präsent war? Ich habe zu diesem Thema eine empirische Studie durchgeführt, die ich auch publiziert habe (Vgl: Der Islam in den Medien. Das Framing bei der Darstellung der muslimischen Frau. Saarbrücken 2008. Sowie: Selbst- und Fremdbilder der muslimischen Frau. In: Barbara Stollberg-Rilinger, Hrsg., „Als Mann und Frau schuf er sie“. Religion und Geschlecht. Würzburg: Ergon Verlag 2014.)
Ein Ergebnis war, dass zur Zeit der Kopftuchdebatte kopftuchtragende Frauen in Deutschland so gut wie gar nicht zu Wort gekommen sind. Dagegen waren muslimische Frauen ohne Kopftuch z.B. Necla Kelek oder Seyran Ates, die das Kopftuch als „Islamkritikerinnen“ scharf ablehnten, massiv präsent und haben eine unglaubliche Plattform in den Medien bekommen. Weil Sie Thesen vertreten, die der Mehrheitsmeinung entsprechen. Sie sagen die Dinge, die die nicht-muslimische Mehrheit denkt, d.h. sie fungieren als Kronzeuginnen. Diese Frauen vertreten aber ganz sicher nicht die Mehrheit der Muslime, da fragt dann aber niemand, ob das nicht verzerrend ist.
Generell ist es eine neue Entwicklung, dass Muslime nun immerhin ab und zu in den Medien präsent sind und nicht nur über sie diskutiert wird, sondern mit ihnen – das ist ein Fortschritt. Kopftuchtragende Frauen dominieren aber nicht die Medienlandschaft. Es sind immer noch deutlich mehr muslimische Frauen ohne Kopftuch medial präsent, sie werden dann als „liberale Musliminnen“ vorgestellt und haben es manchmal allein deswegen schon leichter, weil sie kein Kopftuch tragen – denn das Kopftuch stößt immer noch auf sehr viel Ablehnung,
Vorverurteilungen sind die Regel. Frauen mit Kopftuch im medialen Diskurs gibt es doch nur vergleichsweise sehr wenige und sie werden häufig in eine undankbare Rolle gepresst, die ihnen vorgegeben wird und auf die sie reduziert werden. In Deutschland ist es leider noch völlig unvorstellbar, dass eine kopftuchtragende Frau in den Medien zu irgendeinem anderen Thema Stellung bezieht als zu problembehaftete Diskursen um Integrationsdefizite von Muslimen – wo sie dann gerne an den Pranger gestellt wird. Und natürlich gibt es Sendeformate, da ladet man ein „Quotenkopftuch“ ein. Das ist alles noch sehr weit davon entfernt, ein Diskurs auf Augenhöhe zu sein. Aber immerhin ist es ein Anfang, dass muslimische Frauen präsent sind, wenn auch in undankbaren Rollen – und nicht wie in den vielen Jahren davor völlig unsichtbar gemacht werden. Ein echter Fortschritt wäre es, wenn kopftuchtragende Frauen auch zu anderen Themen in den Medien Stellung beziehen könnten und ihr Kopftuch nicht zur Diskussion gestellt würde. Wenn das Kopftuch eine Selbstverständlichkeit wird für die man sich nicht länger rechtfertigen muss und in die nicht alles Mögliche an Ressentiments und Vorurteilen hineinprojiziert wird.
Global Review: Früher sprach man von Ausländern, seit 9-11 spricht man nur noch über die Religion und Muslime. Araber, Türken, Kurden, Afghanen, Iraner, Iraker werden einfach unter einen religiösen Oberbegriff gepfercht, obwohl sehr viele säkular sind und eher ihre Nationalität und Ethnie als primäre Identität sehen als ihre Religion. Ist dies nicht auch ein verzerrtes Wahrnehmungsbild, das eine (bedrohliche) Einheitsfront der Muslime suggeriert?
Ja, natürlich. 9-11 hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die Etikettierung des „Fremden“ und die damit verbundene Konstruktion eines Unterschiedes zwischen „ihr“ und wir“ findet seitdem nicht mehr nur entlang der Nationalität, sondern zunehmend entlang der Religionszugehörigkeit statt. Es ist jetzt der Islam, der als Störfaktor im Integrationsprozess diskutiert wird ohne zu bedenken, dass Probleme, die aus bildungsbezogenen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Zusammenhang mit Migrationsvorgängen stehen, nicht pauschal auf den Faktor „Religion“ heruntergebrochen werden können. Dadurch dass die Ursache von Missstände immer wieder in der Religion des Islams ausgemacht wurde, ist es zu einer Entpolitisierung gekommen. Es wird also nicht eine falsche Integrationspolitik kritisiert oder die Anerkennungsproblematik diskutiert – an der könnte man etwas ändern. Sondern: Die Muslime sind halt so wegen ihrer Religion. Damit macht man es sich leicht. Man muss dann an den Problemen als Mehrheitsgesellschaft nicht mehr arbeiten, weil sie vermeintlich nichts mit einem zu tun haben und zweitens kann man sich überlegen und fühlen durch die Abwertung des „rückschrittlichen Muslims“.
Global Review: Im Artikel der EMMA von Alice Schwarzer zum Burkiniverbot heißt es:
“Auch in der Debatte in Frankreich kursiert das fatale Missverständnis, die Bekleidungsgebote für „religiöse Gebote“ zu halten – und nicht für ideologische Gebote; nämlich die fundamentalistische Interpretation schriftgläubiger, rückschrittlicher Muslime, deren erste Opfer, ganz wie in Deutschland, die aufgeklärten MuslimInnen sind. In Deutschland trägt nur eine von fünf Frauen muslimischer Herkunft das Kopftuch – in Frankreich werden es noch weniger sein.” Was sagen Sie zu diesem Statement?
Hier werden lauter Scheinkausalitäten konstruiert. Zum Beispiel wird suggeriert, das Kopftuch sei kein religiöses Gebot und schriftgläubige Muslime seien unaufgeklärt. Es gehört nun mal zum essentiellen Teil des Glaubens eines Muslims, dass der Koran die letzte wortwörtliche Offenbarung Gottes ist. Wenn es nun mehrere Verse gibt, die ein Bekleidungsgebot formulieren, ist das für praktizierende, gläubige Muslime von Relevanz – und es gibt nun mal eine Reihe von überzeugenden theologischen Argumenten, dass diese Verse ein Gebot zur Verschleierung beinhalten.
Das hat nichts mit Fanatismus zu tun. Alice Schwarzer versucht immer wieder den Eindruck zu erwecken, nur die radikalen Muslime würden das Kopftuchgebot aus dem Koran ableiten oder die Gebote des Korans ernst nehmen. Das würde aber heißen, dass alle praktizierenden Muslime, radikal wären, d.h. alle Muslime, die fünfmal am Tag beten, im Ramadhan fasten, Almosen geben und sich an andere Gebote des Korans halten, sind nach dieser Logik radikal. So einfach ist das aber nichts. Fanatismus und Radikalität hat erst einmal nichts damit zu, wie konsequent oder inkonsequent jemand seinen Glauben praktiziert. Natürlich gibt es Fanatiker, die einen irrationalen Buchstabenglauben verfolgen, das lehne ich auch ab. Der Koran spricht ja selbst davon, dass man seine Vernunft gebrauchen soll und beschreibt, dass man nicht selektiv vorgehen darf und über die metaphorische Bedeutung vieler Verse nachdenken muss (10:100; 3:8; 62:6; 59:22). Gerade diejenigen Islamisten, die Terrorakte verübten, waren nicht selten erstaunlich inkonsequent in ihrer spirituellen Praxis, das wissen wir mittlerweile aus Ermittlungen. Manche haben Drogen genommen, Pornografie konsumiert, einen hedonistischen Lebensstil gepflegt und anderweitig zentrale Gebote des Korans missachtet. Das eine hat also mit dem anderen nicht zwingend etwas zu tun. Wenn immer weniger Frauen das Kopftuch tragen oder immer weniger Muslime ihr tägliches Gebet verrichten, dann hat das unterschiedliche Ursachen – es ist ganz allgemein zu beobachten, dass Religion in einer zunehmend säkularen, von kapitalistischen Prinzipien durchdrungenen Gesellschaft, weniger praktiziert wird, das ist unter Christen nicht anders. Im Übrigen kann man sehr wohl praktizierender Muslim sein und ein aufgeklärtes Islamverständnis haben.
Das Interview erschien auf Global Review