2012: Warum ich das Kopftuch trage? Diese Frage wird mir sehr häufig gestellt und es ist immer noch besser, zu wagen, mir diese Frage zu stellen und damit Gefahr zu laufen, auf die Nerven zu gehen, als sich mit spekulativen Vermutungen über meine Motivation, das Kopftuch zu tragen, zufrieden zu geben. Daher antworte ich gerne auf diese Frage, auch wenn es manchmal anstrengend sein kann, sich wiederholen zu müssen und mit grotesken Vorurteilen konfrontiert zu werden.

Und wo wir schon bei den Vorurteilen sind: Bevor ich damit anfangen kann, zu erklären, warum ich das Kopftuch trage, sehe ich mich gezwungen, erst einmal zu erklären, warum ich es definitiv nicht trage. Es gibt nun mal viele Beweggründe für das Tuch auf dem Kopf, für die eine ist es ein Modeaccessoire, für die andere identitätsstiftend, für die dritte ein Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur oder schlicht Tradition. Und dann gibt es noch die Frauen, die zum Kopftuch gezwungen werden, weil männliche und weibliche Verwandte sowie eine patriarchale Kultur glauben, Frauen damit kontrollieren zu können. Letztere sind häufig Gegenstand dramatischer Berichterstattung und werden im Westen nicht selten als prototypische Vertreter von Kopftuchträgerinnen wahrgenommen. Verallgemeinerungen solcher trauriger Fälle führen zu einem Schema im Kopf, bei dem das Kopftuch als salientes Merkmal decodiert wird als ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Nicht zuletzt die öffentlich geführten Debatten um Kopftuchverbote und die politischen Begründungen für eine Prohibition von Kopftüchern für Lehrerinnen in Deutschland, erhärten die Wahrnehmung, das Kopftuch stehe für Zwang, Unterjochung und ihre Trägerinnen seien per se Opfer von männlicher Gewalt.

Nun, das zumindest dürfte bei mir nicht der Fall sein. Weder meine Eltern, noch meine Brüder oder mein Mann haben jemals auch nur einen Hauch von Andeutung in die Richtung gemacht, dass ich das Kopftuch tragen müsse. Das wäre ihnen nicht eingefallen, denn das wäre ja ungefähr so, als würden sie mir nahelegen, eine bestimmte Brillenstärke zu wählen: Da konnten sie mir nicht reinreden, denn das musste ich selbst wohl am besten wissen. Es war zwar manchmal Thema, ob und warum eine Muslimin das Kopftuch tragen sollte oder nicht. Aber wem sollte es nützen, wenn sie dies selbst nicht tun wollen würde? Und damit nähern wir uns auch schon den Gründen für meine persönliche Motivation meine Haare zu bedecken – wobei es um die Haare allein natürlich nicht geht.

Für mich als gebürtige Muslimin gibt es zwei übergeordnete Beweggründe das Kopftuch zu tragen. Es ist eine Herzensentscheidung und eine Vernunftentscheidung. Da ich das Kopftuch schon als Schülerin getragen habe, stand zunächst etwas im Vordergrund, das nicht in erster Linie die weitreichenden gesellschaftlichen Konsequenzen des Kopftuchtragens im Blick hatte. Ich fing an das Kopftuch zu tragen, aus Liebe. Es war die Phase in meinem Leben, in der ich mich intensiver mit der Sinnfrage beschäftigte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass Gott lebendig ist und antwortet. Dass Gebete erhört werden und eine tiefe Zufriedenheit durch die Verbundenheit zu Gott entsteht. Ich hatte Eltern, die mir alle Freiheiten ließen, weil sie ein großes Vertrauen zu mir hatten und die mir gleichzeitig vorlebten, wie es ist, einen lebendigen Glauben zu haben. Und ich hatte erfahren, dass die Kicks, nach denen sich meine gleichaltrigen Freunde sehnten, voller zerreißender Höhen und Tiefen waren. Sie erschienen mir im Vergleich zu der inneren Ruhe und den Möglichkeiten an Erfahrungen durch die Kommunikation mit Gott als kaum erstrebenswert.

Um meiner Verbundenheit zu Gott Ausdruck zu verleihen, fing ich an, das Kopftuch zu tragen. Ich wusste natürlich, dass dies nicht leicht sein würde und hatte auch Angst. Angst, Freunde zu verlieren, Angst mit Vorurteilen konfrontiert zu werden, Angst vor den Reaktionen anderer und Angst vor negativen Konsequenzen. Doch genau darin bestand auch der Liebesbeweis für mich: Sollte ich wirklich Angst vor Geschöpfen des Allmächtigen Schöpfers haben? Wessen Liebe und Nähe war mir wichtiger? Was sind das für Freunde, die sich wegen eines Kopftuches von Dir entfernen? Ich sah das Kopftuch als ein Mittel, Gott näher zu kommen, indem ich mich öffentlich zu ihm bekannte. Natürlich hat dies etwas damit zu tun, dass der Koran für mich eine Offenbarung Gottes ist, das letzte von Gott offenbarte Buch über die Psyche und Natur des Menschen. Und dass es im Koran Verse gibt, die muslimische Frauen dazu auffordern, sich zu bedecken (Sure 24: Vers 32f.). Für mich dient es als Mittel, um Gottes Nähe und Wohlgefallen zu erlangen. Wenn man jemanden aus ganzem Herzen liebt, dann beginnt man Dinge zu tun, von denen man weiß, dass sie dem Liebsten gefallen. Und man trägt Dinge, die einen an den Liebsten erinnern. Das Kopftuch erinnert mich jederzeit daran, dass ich ein Muslim bin, was wörtlich so viel heißt, wie „Gott ergeben“. Es ist also auch ein Ausdruck der Hingabe und Liebe zu Gott, die mutig macht. Denn gerade als Schülerin in Deutschland war es nicht immer leicht, gegen den Mainstream zu laufen. Mit einem Kopftuch fällt man auf, läuft Gefahr Außenseiter zu werden und sich zu isolieren. Aber ich lernte, zu meiner Meinung zu stehen, auch wenn sie anderen nicht gefallen würde. Ich lernte, gegen Gruppendruck, Konformismus und Mitläufertum immun zu werden. Das Kopftuch hatte mich gelehrt, dass man stark sein kann, wenn einem etwas wirklich wichtig ist auch wenn man eine Position vertritt, mit der man in der Minderheit ist. War ich vorher noch häufig opportunistisch, so wurde ich mit dem Kopftuch immer selbstbewusster. Ich sah im Allmächtigen Gott einen Freund, gegen den niemand ankommt, weswegen ich also auch keine Angst haben musste. Ich verlor Freunde und ich gewann neue Freunde für´s Leben. Vor allem aber wurde ich von nun an als Muslimin erkannt, was mir die Gelegenheit bot über meinen Glauben ins Gespräch zu kommen. Zuvor war das häufig ein Tabuthema, etwas über das man nicht spricht, obwohl es den Kern unserer Existenz berührt. Mit dem Kopftuch gab es immer wieder Anlass für Andere, neugierige Fragen zu stellen und sich undogmatisch auszutauschen und zu philosophieren.

Neben diesen positiven Erfahrungen, die ich überraschenderweise machte, war ich natürlich auch Vorurteilen ausgesetzt. Es gab immer wieder Lehrer, die mich völlig unterschätzten, weil ich ein Kopftuch trug und die erst nach den ersten Klausuren merkten, dass ich „trotz“ Kopftuch nicht auf den Kopf gefallen war. Es gibt immer wieder mal giftige Kommentare, die ich mittlerweile kaum noch wahrnehme oder man wird anders, diskriminierend eben, behandelt. Mit Tuch kann es durchaus vorkommen, dass Verkäuferinnen nicht so zuvorkommend sind, aber dafür auch nicht so aufdringlich wie gegenüber manch „unbetuchtem“ Kunden. Ich bin gelassener geworden, mich kümmert es einfach nicht mehr so sehr, wie und was andere über mich denken. Aber natürlich weiß ich, dass es auch schwierig werden kann, wenn man wegen des Kopftuches etwa nicht eingestellt wird. Allerdings sehe ich nicht ein, wieso ich mir untreu werden soll, weil es Menschen gibt, die nicht bereit sind, ihre Vorurteile über Bord zu werfen. Was zählt, ist meine Kompetenz. Es erscheint mir befremdlich, dass immer häufiger auf ein attraktives, äußeres Erscheinungsbild Wert gelegt wird. Vor allem Frauen müssen anscheinend nicht nur gepflegt auftreten, sondern sollen idealerweise auch phänotypisch ansprechend sein. Wenn solch oberflächliche, vorurteilsbeladene und sexistische Vorstellungen bei der Auswahl von Mitarbeitern eine Rolle spielen, dann ist das problematisch, weniger das Kopftuch.

Häufig wird argumentiert, man solle sich bitte anpassen. Auch wenn ich dieses Argument aus der Perspektive Außenstehender nachvollziehen kann, scheint es mir aus Sicht eines gläubigen Menschen absurd. Natürlich sollte man versuchen, sich anzupassen, soweit es geht, um Integration und ein harmonisches Miteinander zu fördern. Aber das kann nicht bedeuten, dass man sich in essenziellen Fragen von seinen innersten Zielen trennen muss. Dass man sein Selbstbestimmungsrecht verliert, sein Recht auf freie Ausübung der Religion, das Recht darauf, sich so zu kleiden, wie man es möchte. Als Muslim besteht der Sinn meines Lebens darin, Gott zu erkennen, Frieden zu finden und Frieden zu verbreiten. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod, auf das wir uns in diesem Leben vorbereiten, indem wir unsere Seele so weit reifen lassen, dass wir in der Lage sind, Gott in immer vollkommenerem Maße zu erkennen. Möglich wird dies dadurch, dass wir uns mit den Eigenschaften Gottes färben, die im Koran beschrieben sind. Gerechtigkeit, uneigennützig Gutes tun, sich selbst überwinden, um für andere da zu sein, sind zentrale Mittel, um diesen Frieden und die Einheit mit Gott zu erlangen. Und es gehört dazu eben auch, dass ich aus Liebe heraus Gebote befolge, weil ich denke, dass sie mir helfen, meinem Ziel näher zu kommen. Ich habe das Vertrauen, dass Gott als Schöpfer am besten weiß, was gut für seine Schöpfung, also mich, ist. Das heißt noch lange nicht, dass ich die mir von Gott gegebene Vernunft ausschalten darf, denn es heißt im Koran ja auch: „Allah sendet Seinen Zorn über jene, die ihre Vernunft nicht gebrauchen mögen“ (Sure 10: Vers 101).

Und damit kommen wir zu den vielen Gründen für das Tragen eines Kopftuches, die mich das Leben später lehrte zu verstehen. Umso mehr an Lebenserfahrung ich gewinne, umso stärker merke ich, welch wichtige Funktion das Kopftuch für eine Gesellschaft haben kann. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass wir so viele Dinge in unserem Leben regeln, damit sie koordiniert laufen und kein Chaos entsteht und ausgerechnet in Sachen der Liebe meinen, es sei nicht nötig, Regeln einzuhalten. Und das obwohl die Liebe eines der stärksten Gefühle ist, die ein Mensch haben kann. Allein wenn man betrachtet, womit sich ein großer Teil der Kultur beschäftigt, seien es Literatur, Kunst, Film oder Musik, fällt auf, wie zentral die Liebe für den Menschen ist.

Auch nach der sogenannten sexuellen Revolution träumt die große Mehrheit der Menschen von der ewigen, romantischen und treuen Liebe. Von einer Partnerschaft, die für das ganze Leben hält und erfüllt. Und dennoch gehen wir so leichtfertig mit der Liebe um. Ich möchte an dieser Stelle einen Vergleich anführen, um herauszustreichen, was hinter dem „Prinzip Kopftuch“ steckt. Denn es geht keinesfalls um das Stück Tuch selbst. Es gibt weltweit einen großen Konsens darüber, dass das menschliche Leben geschützt werden muss. Man ist sich darüber einig, dass es wichtig ist, zum Schutz des Lebens und um ein möglichst schnelles Fortschreiten ohne Hindernisse möglich zu machen, Regeln einzuführen, die den Verkehr kontrollieren. Jeder Mensch, der ein Auto fahren möchte, um schneller an ein angestrebtes Ziel zu gelangen, muss bestimmte Regeln einhalten, auch wenn sie manchmal unbequem sind, vielleicht sogar unnötig erscheinen. Wir halten uns daran, weil wir einsehen, dass sie größtenteils Sinn machen und zum Vorteil für uns alle sind. Es gibt Ampeln, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Verkehrsschilder etc., die das Verkehrssystem benötigt, um Unfälle zu vermeiden.

Das Kopftuch ist nun auch ein Teil eines Systems oder einer bestimmten Lebensphilosophie, bei der es darum geht, nicht das Leben, sondern die Liebe zu schützen, Unfälle weniger wahrscheinlich zu machen sowie ein schnelles Voranschreiten zu Gott leichter möglich zu machen. Es erscheint ziemlich unvernünftig etwas so wichtiges, wie die Liebe, nicht schützen zu wollen. Grundlegende Regeln machen Sinn, wenn es folgende Prämissen gibt: Zum einen, dass es erstrebenswert und erfüllend ist, wenn es einem Paar gelingt, sich ein Leben lang treu und in Liebe verbunden zu sein. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass die Kunst der Liebe auch etwas ist, das erlernt werden muss und das mit der Zeit wächst und gedeiht, wenn man es entsprechend pflegt. Die Liebe zweier Menschen nimmt dann neue Dimensionen an. Jenseits der anfänglich fast kindlichen Faszination des Verliebtseins und der körperlichen Anziehungskraft kommt es mit der Zeit zur Einheit zweier Seelen. Dieser Zustand der körperlichen, seelischen und mentalen Einheit wird aber nur erreicht, wenn man viel in die Partnerschaft investiert, füreinander da ist, sich gegenseitig dient und lernt sein Ego zu überwinden, um mit dem anderen eins werden zu können. Es ist ein langer und nicht einfacher Weg. Allerdings auch ein besonders schöner. Nun gibt es aber häufig das Problem, dass man während seiner Reise auch Wüsten zu überqueren hat, trostlose, harte Zeiten. Dass es Schwierigkeiten gibt, dass der Partner uns herausfordert und dadurch zu größeren Taten antreibt, aber eben auch fordert, was nicht immer leicht ist.

Gerade in solchen Zeiten ist die Versuchung groß, die Wüste zu verlassen und in eine nahe gelegene Stadt zu flüchten. Allerdings kommen wir so nicht wirklich weiter. In Partnerschaften gibt es immer wieder den Punkt, an dem man sich an den Eigenheiten des Partners zu stören beginnt oder der Illusion erliegt, man müsse ausbrechen, um der Routine zu entfliehen. Es kann ganz unterschiedliche Gründe geben, weswegen man unzufrieden wird in seinem Leben. Für einen religiösen Menschen kann das ein Ansporn sein, stärker an seiner Beziehung zu Gott zu arbeiten und sich nicht zu sehr durch weltliche, alltägliche Banalitäten ablenken zu lassen, um wahre, innere Zufriedenheit zu finden. Es kann aber leicht geschehen, dass man in problematischen Zeiten zu fliehen versucht. In solchen Zeiten ist man besonders anfällig dafür, sich durch Menschen des anderen Geschlechtes beeindrucken zu lassen. Alles erscheint neu, spannend, prickelnd und begehrenswert. Man meint, das Leben in sich zu spüren und möchte alte Trampelpfade verlassen. Nicht selten werden in solchen Lebenssituationen Partnerschaften beendet, auch wenn es bereits Kinder gibt und man verliebt sich Hals über Kopf in eine andere Person. Dass man mit diesem neuen Partner früher oder später am selben Punkt angelangen wird, blendet man aus. Und kommt nicht wirklich voran.

Die Philosophie, die hinter dem Kopftuch steht, geht nun davon aus, dass es besser ist für Männer und Frauen, wenn sie im alltäglichen Leben nicht in einer Atmosphäre zusammentreffen, die Flirts und lockere, enthemmte Gespräche begünstigt. Dazu gehört, dass man seine „Blicke zu Boden“ schlägt, wie es im Koran heißt (Sure 24: Vers 31f.), denn der Augenkontakt ist entscheidend, wenn es darum geht, an einen Flirt zu denken. Und dazu gehört, dass vor allem Frauen nicht mit ihren Reizen spielen und diese nicht in Szene setzen. Das heißt, frau vermeidet figurbetonte Kleidung sowie nackte Haut und trägt als Symbol für die innere Einstellung ein Kopftuch, das sehr viel von der Attraktivität einer Frau zurücknimmt. Das Kopftuch hat sozusagen die Funktion eines roten Stopp-Schildes: Es zeigt, diese Frau hat keinerlei Interesse an Flirts, ihre Persönlichkeit steht im Vordergrund, ihr geht es in Gesprächen um die Sache. Alles, was normalerweise immer wieder mal subtil an erotischer Aufladung mitschwingen kann, wenn vor allem zwei junge Menschen verschiedenen Geschlechtes sich sympathisch sind, wird dadurch neutralisiert. Das ist eine ganz praktische Erfahrung. Natürlich ist das entscheidende die innere Einstellung. Das Kopftuch nützt gar nichts, wenn man innerlich für einen Flirt bereit ist. Aber es hat einen Katalysator oder Verstärker-Effekt, wenn man mit der richtigen inneren Einstellung dabei ist. Und sogar wenn die manchmal am Kippen ist, weil es vielleicht für einen kurzen Augenblick prickelnder erscheint, sich zu öffnen, ist die Botschaft, die durch das Kopftuch ausgeht so eindeutig, dass kaum jemand sie nicht versteht. Von daher dient es sowohl als Erinnerung für die Trägerin selbst, als auch als Signal an die Außenwelt. Männer haben in diesem System natürlich genau so ihren Beitrag zu leisten, z.B. indem sie einen Bart tragen und eine Mütze und vor allem indem sie ihre Blicke kontrollieren. Dass Männer in der Regel deutlich stärker auf visuelle Reize reagieren und freizügig gekleide Frauen weniger als Person, sondern stärker als Objekt wahrnehmen zeigt nicht nur die praktische Lebenserfahrung mit der die Werbeindustrie schließlich großflächig arbeitet, sondern ist mittlerweile auch in vielen, interessanten Studien belegt worden. Deswegen ist der Muslim auch in erster Linie dazu angehalten, seine Augen nicht schweifen zu lassen.

In einer Gesellschaft, in der die meisten Frauen ihre Reize nicht offen „zur Schau tragen“ (Koran, Sure 24:32) und Männer ihre Blicke zügeln, führt dies dazu, dass sich Paare stärker aufeinander konzentrieren und sich nicht so leicht ablenken lassen vom verführerischen, aber doch illusorischen Gedanken, jemand anders könnte interessanter, attraktiver oder besser sein. Die Anziehung durch den eigenen Partner vergrößert sich, weil der Reiz stärker wirkt, wenn man nicht den ganzen Tag schon dauer-gereizt wurde. In einer Gesellschaft aber, in der ständig alles zu sehen ist, also jede Form von erotischem Reiz omnipräsent ist und man nicht zuletzt durch eine Flut an Bildern in den Massenmedien bombardiert wird, stumpft man leichter ab.

Die islamische Philosophie geht davon aus, dass es besser ist, wenn es Tabus gibt und der Mensch dadurch feinfühliger wird, als auf Dauer abzustumpfen oder langsam zu verrohen. Kleinigkeiten reichen dann schon als Reiz aus und machen den eigenen Partner interessant, was die Motivation steigert, mit ihm eine spirituelle Reise zu Gott zu gehen. Eine konstante Dauerregung durch Reize führt irgendwann dazu, dass man einen immer stärkeren, härteren, größeren Reiz benötigt, nach immer mehr und mehr giert. Der weibliche Körper, und zwar allergrößtenteils nur der weibliche Körper, wird in modernen Gesellschaften inszeniert, durchgehend erotisiert und stellt die Grundlage dafür dar, dass die Aufmerksamkeit für Produkte erzielt wird, seien es Fernsehzeitschriften oder Schokolade. Irgendwann bleibt das in den Gehirnen hängen und ob man es möchte oder nicht, wird die Frau als Objekt wahrgenommen, das austauschbar ist, wenn man sich satt gesehen hat.

Wie viele Partnerschaften habe ich in meinem Bekanntenkreis zerbrechen sehen, weil sich ein Partner in jemand andern verliebt hatte. Was für einen Schmerz die hinterlassene Person zu ertragen hat, kann nur derjenige nachempfinden, dem so ein Leid bereits widerfahren ist. Ganze Balladen handeln davon. Welche immensen Schäden Kinder davon tragen, wenn ihre Eltern sich trennen, ist mittlerweile bekannt. Natürlich kann es immer wieder einen triftigen Grund für eine Trennung geben, aber die Leichtfertigkeit mit der Partnerschaften auseinandergehen, hängt auch damit zusammen, dass es so einfach ist, sich zu verlieben. Bekanntlich macht Gelegenheit Diebe. Die Liebe ist ein so starkes Gefühl und zunächst einmal sehr unvernünftig. Man ist wie berauscht und denkt am Anfang nicht über alle Konsequenzen nach, obwohl der Schaden, der durch Verletzungen entsteht überwältigend ist. Und man schadet nicht zuletzt sich selbst, durch die Anhäufung an Altlasten, an Ballast, der in Erinnerung bleibt, an körperlichen Erfahrungen, die die Haut speichert, an Bildfetzen im Kopf, die immer wieder auftauchen, Schmerzen, die durch Vergleiche entstehen.

Eine Gesellschaft, in der die Geschlechter sich in der Öffentlichkeit nicht ohne Regeln treffen, berücksichtigt dies. Das Kopftuch ist also Teil eines Prinzips, bei dem der öffentliche Raum möglichst reizfrei gehalten werden möchte. Zwang darf dabei natürlich keine Rolle spielen, denn das führt nur zur Heuchelei. Wer nicht überzeugt ist, dem nützen die Vorsichtsmaßnahmen nichts. Männer und Frauen halten einen gewissen Abstand, das Kopftuch unterstreicht diesen Abstand. Natürlich ist das nicht immer leicht. Gerade als junge Frau möchte man auch gerne mit seiner Schönheit Blicke auf sich ziehen und dadurch eine gewisse Form der Bestätigung erfahren. Das leichte Prickeln bei einem lockeren Flirt, aus dem weiter nichts werden muss, wird als angenehm empfunden. Es muss ja nicht gleich immer etwas passieren. Aber es reicht eigentlich schon, was sich in den Gedanken festsetzt und solche Erfahrungen sammeln sich, sie können belasten und vom eigenen Partner ablenken und sie können langfristig dazu führen, dass man einen Schritt weiter gehen wird, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Dass eine Frau also darauf verzichtet, ihre Schönheit in der Öffentlichkeit einzusetzen, um Anerkennung zu erfahren, ist zwar nicht immer leicht, es verhilft aber langfristig zu einer demütigen Lebenseinstellung jenseits von Oberflächlichkeit. Eitelkeiten, die starke Konzentration auf die Optimierung des äußerlichen Erscheinungsbild, die Orientierung an Schönheitsidealen spielen keine wesentliche Rolle mehr.

Das heißt nicht, dass äußerliche Schönheit nicht relevant ist. Sie dominiert allerdings nicht und wird in der Partnerschaft exklusiv erlebt. Dass Intimitäten zwischen Partnern als heilig verstanden werden, gehört dazu. „Unfälle“ können zwar auch geschehen, wenn sich alle Beteiligten an die Regeln halten, aber die Wahrscheinlichkeit ist wesentlich geringer. Das ist beim Verkehrssystem nicht anders. Und es kann angenehm sein, wenn man weiß, dass die Öffentlichkeit ein Raum ist, der erotisch möglichst reizfrei gehalten wird. Man wird gelassener, kümmert sich weniger um eine eitle Darstellung seines selbst und muss keine Konkurrenz befürchten – da man signalisiert, dass man auf diesem Gebiet in der Öffentlichkeit nicht konkurriert und für den Fall, dass auch viele andere Frauen sich bedecken, ein besseres Gefühl hat, was die optische Wahrnehmung des eigenen Mannes angeht. Dass dieser als Muslim vor Gott verpflichtet ist, seiner Partnerin treu zu sein, unabhängig davon, wie andere Frauen sich verhalten und ob diese sich verschleiern oder nicht, versteht sich von selbst (Koran, Sure 24: Vers 31).

Meine persönliche Erfahrung ist, dass Männer jeder Kultur das Kopftuch meist intuitiv richtig decodieren. Sie verhalten sich respektvoller, gehen stärker auf Distanz, vermeiden eine allzu große Nähe und Lockerheit. Es hat insofern auch etwas mit Würde zu tun. Ein häufiger Vorwurf lautet, dass Frauen mit Kopftuch unverschleierten Frauen unterstellten, sie hätten keine Würde, wenn sie argumentieren, das Kopftuch verleihe der Frau ebendiese. Oder es wird angeführt, muslimische Männer seien der Meinung, Frauen ohne Kopftuch müssten nicht respektvoll behandelt werden und seien würdelos. Das mag es geben, ist für mich aber nicht nachvollziehbar. Es gibt bestimmte Kleidungsstücke, die eine gewisse Würde ausstrahlen, ein eleganter Anzug etwa. Das heißt noch lange nicht, dass alle Männer, die keinen Anzug tragen, deswegen keine Würde besitzen. Natürlich ist die Menschenwürde jeder Person unantastbar und zu achten und auch nicht verschleierte Frauen haben selbstverständlich Würde. Aber dennoch würden die meisten Menschen wohl zustimmen, dass sie den Eindruck haben, sehr leicht bekleidete Frauen wirkten nicht besonders würdevoll – auch wenn das noch lange nicht heißt, dass irgendein Mann das Recht hätte, sie anders als respektvoll zu behandeln. Das große Dilemma ist jedoch, dass vor allem Männer aus sogenannten islamischen Ländern teilweise ein derartig patriarchales Fehlverhalten an den Tag legen und Frauen in einigen dieser Ländern tatsächlich diskriminiert und unterdrückt werden oder zum Kopftuch gezwungen werden, so dass es oft schwer fällt, unvoreingenommen über dieses Thema zu diskutieren.

Der Zwang, der Missbrauch durch patriarchale Gesellschaften und die Unterdrückung der Frau haben meiner Meinung nach nichts mit dem Islam wie ich ihn verstehe, der islamischen Lehre, die sich aus dem Koran ableitet oder dem Kopftuch zu tun. Es kann vielmehr auch ein Ausdruck der Emanzipation sein, wenn Frauen nicht länger als Objekt gesehen werden möchten und sich deswegen entsprechend bedeckend kleiden. Es erfolgt oft der Einwand, dass die Männer an sich arbeiten sollten, wenn sie ein Problem damit hätten, wenn Frauen mit ihren Reizen spielen und es nicht plausibel sei, wenn Frauen sich nur wegen des Fehlverhaltens der Männer einschränken müssen. Aber man muss der Realität ins Auge sehen. Wir schließen unsere Autos ab, auch wenn der Dieb eigentlich etwas Falsches tut, wenn er stiehlt. Und dennoch unterstellen wir nicht jeder Person, die an unserem Auto vorbei läuft, sie sei ein Dieb. Das heißt, das Kopftuch ist auch eine Schutzmaßnahme, allerdings natürlich nicht vor Vergewaltigungen (welch absurder Gedanke), sondern in erster Linie davor, dass man etwa selbst ungewollt Phantasien eines Mannes ankurbelt, in denen man nicht die Hauptrolle spielen möchte. In vielen Fällen wäre das natürlich nicht nötig, aber da man das vorher nicht wissen kann, tragen manche muslimische Frauen es eben und bedecken ihre Haare mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der andere ihren Oberkörper bedecken. Das hat wenig mit Einschränkung zu tun, als mit der individuellen Schamgrenze, die bei kopftuchtragenden Frauen auch die Haare miteinbezieht. Und sicher auch etwas mit gesellschaftlicher Verantwortung.

Wenn kritisiert wird, dass Männer sich kontrollieren lernen müssten, und es daher falsch sei, dass die Frau bei sich das „Problem“ suche und sich verschleiere, dann werden Grundprinzipien des Islam außer Acht gelassen. Nehmen wir das Fasten: Es hat zum Ziel, die Seele zu schulen und deren Triebe zu disziplinieren, um frei zu werden für Erfahrungen mit Gott. Der Fastende ist angehalten, grundlegende körperliche Triebe wie den Hunger- und Sexualtrieb zu kontrollieren, um sich auf den Zustand der Seele im Jenseits vorzubereiten – jenseits von körperlichen Genüssen gilt es dann, Lust und Zufriedenheit durch innere Seelenarbeit wahrnehmen zu können. Der Verheißene Messiasas des Islams definierte den Begriff „Islam“ daher folgendermaßen: „Was ist Islam? Es ist das brennende Feuer, das all unsere niederen Wünsche verzehrt. Der Tag des Sterbens unserer körperlichen Begierden ist der Tag der Manifestation Gottes.“[1] Es gehört zum Kern der islamischen Philosophie, dass der Mensch lernen muss, seine niederen Leidenschaften zu zügeln, um höhere moralische Eigenschaften entwickeln zu können und damit dem Sinn des Lebens näher zu kommen: Der Vereinigung mit Gott. Ein Menschenbild, nach dem der Mann dazu nicht in der Lage ist, ist daher nicht kompatibel mit der islamischen Lehre. Die Schwäche der menschlichen Natur berücksichtigend, werden jedoch Rahmenbedingungen geschaffen, die es dem Menschen erleichtern, Gottes Liebe zu erlangen. Es entspricht zudem der Vernunft, praktische Vorkehrungen zu schaffen.

Für mich ist das Kopftuch daher ein Symbol für die Liebe. Für die Liebe zwischen Mensch und Gott und für die Liebe zwischen Mann und Frau, zwei Liebesbeziehungen die sehr viele Parallelen haben. Wer an Gott nicht glaubt, wird diese Liebe nicht verstehen können und damit auch nicht meine Beweggründe, das Kopftuch zu tragen. Aber wer an die Liebe glaubt, wird es vielleicht doch verstehen und mir hoffentlich im Namen der Liebe die Freiheit lassen, es zu tragen, wenn ich es möchte und umgekehrt.


[1] Hazrat Mirza Ghulam Ahmad<sup>as</sup>: Die Philosophie der Lehren des Islam. Verlag Der Islam.